Zielsicher eilte die Gestalt auf den Bogengang zu und hinaus in den Kräutergarten. Fidelma stand sofort auf und zog Eadulf mit sich. Katzengleich schlichen sie hinterher. Sie sahen gerade noch, wie die Gestalt die Außentür der Abtei erreichte, und hörten, wie sie die Riegel zurückschob. Die metallenen Angeln quietschten leise, als sich die Tür öffnete und wieder schloß.
Fidelma flüsterte sofort: »Rasch! Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren.«
Eadulf folgte ihr und äußerte flüsternd seine Einwände. Er wollte nicht aus dem Schutz der Abtei heraus, und er hatte seinen Pilgerstab nicht bei sich, auf den er sich seit der Auseinandersetzung mit dem Wolf gern verließ. Zu dieser Nachtwache hatte er ihn aber nicht mitgebracht.
»Bist du sicher, daß es Bruder Bardan ist? Müssen wir ihn auch außerhalb der Abtei verfolgen? Wenn wir nun auf Wölfe stoßen?«
Fidelma würdigte ihn keiner Antwort und durchquerte den Kräutergarten mit einer Schnelligkeit, die Eadulf verblüffte. Er konnte kaum mit ihr Schritt halten. Die Tür war nicht verriegelt, und sie gelangten rasch hinaus auf das nächtliche Feld.
Der Mond stand noch am Himmel und war fast voll, so daß außerhalb des Schattens der Abtei eher Zwielicht als das Dunkel der Nacht herrschte. Es war wolkenlos, und am dunkelblauen Himmelszelt funkelten Myriaden von Sternen. Eine leichte Helligkeit auf den Spitzen der Berge im Osten kündigte den nahen Morgen an. Fidelma zog Eadulf in den Schatten der Abtei zurück und wies hinaus.
Bruder Bardan war jetzt deutlich zu erkennen, wie er in einiger Entfernung mit gesenktem Kopf schnell über das Feld lief. Fidelma sah sich nach einer Dek-kung um, fand aber keine. Bruder Bardan entfernte sich von allen Bäumen und Gebäuden und überquerte eine offene Heidefläche.
Mit einem Seufzer winkte Fidelma Eadulf, ihr zu folgen, und eilte der rasch verschwindenden Gestalt hinterher. Hätte sich Bruder Bardan umgesehen, hätte er sie zweifellos erspäht, und sie hätten ihm ihre Verfolgung wohl nur schwer erklären können.
Nach einer Weile wurde klar, daß Bruder Bardan auf die dunkle Silhouette eines Gebäudes zusteuerte, das an einer Ecke der freien Fläche hinter den Eiben stand. Es war eine kleine Steinkapelle. Sie lag im Dunkeln, und sie konnten nur erkennen, daß sie kaum fünf Meter hoch und sechs Meter lang war, eher ein winziges Bethaus als eine Kapelle.
Bruder Bardan war in dem Gebäude verschwunden.
Fidelma blieb stehen und schaute sich im Mondlicht um.
»Wenn er herauskommt, sieht er uns bestimmt«, erklärte Eadulf das Offenkundige.
Fidelma wies auf eine nahe Baumgruppe.
»Das ist unsere einzige Deckung. Wir warten hinter den Bäumen, bis er herauskommt.«
»Meinst du, Bruder Bardan trifft sich dort mit jemandem?« fragte Eadulf, als sie es sich in der Dek-kung bequem machten.
»Spekulation ohne Kenntnis ist gefährlich«, antwortete Fidelma mit einem ihrer Lieblingssprüche.
»Du vermutest, daß er nichts Gutes im Schilde führt?«
»Ich urteile nicht über ihn.«
»Aber du mußt doch eine Vorstellung davon haben, was er vorhat?« wandte Eadulf ein.
»Publilius Syrus schrieb, ein voreiliges Urteil sei der erste Schritt dazu, es korrigieren zu müssen. Wir warten ab, was geschieht.«
Eadulf seufzte und lehnte sich an einen Baumstamm. Mit Anbruch des Morgens wurde der Boden feucht, und er suchte nach einem trockenen Baumstumpf, auf dem er sitzen konnte. Fidelma setzte sich so, daß sie den Eingang des Gebäudes im Blick hatte.
Eadulf lehnte sich zurück und seufzte tief. Dann schloß er die Augen.
Nur einen Augenblick später, schien es ihm, öffnete er sie wieder und sah zu seiner Überraschung, daß ihn das graue Licht der Morgendämmerung umgab. Der pelzige Geschmack in seinem Mund verriet ihm, daß er geschlafen haben mußte. Er gähnte und blinzelte, fühlte sich steif und unbehaglich. Er schaute Fidelma an.
Sie saß immer noch auf dem Baumstumpf, leicht vorgebeugt, die Arme um die Knie geschlungen. Sie erwiderte seinen Blick.
»Wie lange ...?« Die Worte kamen nur schwer aus seinem trockenen Mund.
»Wie lange du geschlafen hast? So lange, bis der Morgen graute.«
In ihrer Stimme lag kein Tadel.
»Was hat sich ereignet?«
Fidelma öffnete die Arme und reckte sich.
»Nichts. Bruder Bardan ist nicht wieder aufgetaucht.«
Eadulf blickte hinüber zu der Kapelle, die nun im Dämmerlicht klar zu erkennen war.
Die Trockenmauern des rechteckigen Gebäudes waren leicht schräg, um den Regen abzuleiten. Seine Größe hatte er im Mondlicht richtig geschätzt.
»Es ist eine kleine Kapelle«, meinte Eadulf.
»Ja«, stimmte ihm Fidelma zu. »Ein Bethaus zur stillen Andacht.«
»Bruder Bardan ist nicht wieder herausgekommen? Was macht er dort die ganze Zeit?«
»Wie du schon sagtest, trifft er sich vielleicht dort mit jemandem. Hab Geduld.«
Eadulf unterdrückte einen Seufzer. Er hatte fürchterlichen Durst, und sein Magen knurrte.
»Ich wünschte, ich hätte mir was zu essen und zu trinken mitgenommen.«
»Geduld«, wiederholte Fidelma ungerührt.
Eadulf hatte die Nase voll. »Geduld!« brummte er. »Geduld kann auch eine Entschuldigung für mangelnde Zielstrebigkeit sein, die sich als Tugend ausgibt.«
Fidelma biß nicht darauf an, sie schwieg.
Die Zeit verging, und bald erschien die Sonne am Osthorizont. Ihre Strahlen fielen anfangs noch blaß und schwach über die Ebene. Von Bruder Bardan gab es noch immer keine Spur. Die Abteiglocke läutete zum ersten Gottesdienst des Tages.
Fidelma stand entschlossen auf.
»Was jetzt?« fragte Eadulf verwundert.
»Bruder Bardan ist nicht wieder aufgetaucht. Gehen wir hinein und sehen nach, was er treibt. Er muß uns wohl doch bemerkt haben, als wir ihm folgten. Deshalb ist er in der Kapelle geblieben.«
Fidelma eilte über das Feld auf das Gebäude zu, Eadulf blieb an ihrer Seite.
Durch die Tür der Kapelle konnte man nur einzeln eintreten, und auch das nur in gebückter Haltung. Fenster besaß sie nicht und war vollkommen dunkel. Fidelma ging voran und mußte etwas warten, bis sich ihre Augen auf das wenige Licht eingestellt hatten, das durch die Tür hereindrang. Eadulf kam ihr nach.
Sie sahen sich verwirrt um.
Das Bethaus war leer.
Kapitel 17
Im Innern der Kapelle konnte man sich nirgends verstecken. Der Boden war mit Steinplatten ausgelegt, und es gab nur einen kleinen Altartisch mit einem holzgeschnitzten Kreuz darauf. Links und rechts des Kreuzes stand je eine Talgkerze in einem Metallhalter, vor dem Kreuz eine Vase mit vertrockneten Blumen.
Das Bethaus war offensichtlich verlassen. Eadulf bemühte sich, seine Befriedigung zu unterdrücken, als er sagte: »Er muß sich herausgeschlichen haben, ohne daß du ihn sahst.«
»Ich hatte den Eingang die ganze Zeit im Auge. Er ging hinein, kam aber nicht wieder heraus«, entgegne-te Fidelma mit Bestimmtheit und musterte ungläubig den Raum.
»Aller Anschein spricht dagegen.«
Ihr Blick funkelte zornig. »Im Gegensatz zu dir habe ich die Augen nicht zugemacht.«
Eadulf gestattete sich ein überlegenes Lächeln, sagte aber nichts.
Fidelma war sichtlich verwirrt. Als einzige Erklärung bot sich an, daß Bruder Bardan das Bethaus auf einem anderen Wege als durch die Tür verlassen hatte. Es gab aber keinen anderen Ausgang.
Mit einem Seufzer ließ sie davon ab, das Unergründliche ergründen zu wollen.
»Gehen wir zurück zur Abtei. Dieses Problem läßt sich nicht mit leerem Magen lösen«, schlug Eadulf vor.