»Unser Mutwille wurde spürbar gedämpft, als sich die Tür des Vaterhauses hinter uns schloß, mein angelsächsischer Bruder. Irgendwie kamen wir beide zu dem Entschluß, in die Abtei Armagh einzutreten, die auf dem Land unseres Clans steht, wo der heilige Patrick .«
»Wir kennen die Geschichte von Armagh«, versicherte ihm Fidelma kurz.
»Nun, dort wurden wir beide zum scriptor ausgebildet. Dann trennten sich unsere Wege. Mein Bruder entschied sich, der römischen Ordnung zu folgen, die in Armagh bevorzugt wird. Ich fand unsere traditionellen Regeln besser, lehnte mich gegen Armagh auf und ließ mir die Tonsur des heiligen Johannes schnei-den. Meine Schreibkunst genoß einen guten Ruf, und so verabschiedete ich mich von meinem Bruder und ging eine Weile auf Wanderschaft. Ich diente in mehreren Abteien und sogar an Fürstenhöfen, wo Schreiber gebraucht wurden. Auf diese Weise kam ich schließlich in dieses Land und trat der Gemeinschaft von Imleach bei. Das war vor zehn Jahren.«
»Bist du in dieser Zeit mit deinem Bruder in Verbindung geblieben?«
Mochta schüttelte den Kopf. »Nur ein oder zweimal habe ich von ihm gehört. Durch ihn erfuhr ich, daß unsere Eltern gestorben waren. Wir hatten einen älteren Bruder, der den Bauernhof übernahm, aber wir waren uns alle fremd geworden.«
»Und du hast deinen Bruder in jüngster Zeit wiedergesehen?«
»Ja. Baoill hing Rom nun anscheinend noch fanatischer an, was auch verständlich ist, denn Ultan, der Comarb von Patrick, sein Abt und Bischof von Armagh, strebt die Ausdehnung dieser Ordnung auf alle fünf Königreiche an.«
»Ich kenne Ultans Ehrgeiz, alle Kirchen der fünf Königreiche nach der Art Roms zu vereinigen, mit einem zentralen Oberhirten an der Spitze«, bestätigte Fidelma. »Aber das geht hier nicht, es widerspricht unserer Tradition. Ich vermute, du warst anderer Meinung als dein Bruder?«
»Du sagst es, Schwester. Ich glaube an die Traditionen unseres Volkes und nicht an diese neuen Ideen aus fremden Ländern.«
»Wie kam es, daß du deinem Bruder wieder begegnet bist?«
»Wie du vielleicht weißt, war ich vom scriptor zum Bewahrer der heiligen Reliquien Ailbes aufgestiegen. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, was diese Reliquien für dieses Königreich bedeuten?«
»Nein, das brauchst du wahrlich nicht«, meinte Fi-delma.
»Nun, vor ein oder zwei Wochen kam ein Mann in die Abtei und fragte nach mir. Er sah aus wie ein Berufskrieger. Groß, mit langem blondem Haar und ...«
»Mit einem Bogen bewaffnet?« fiel Eadulf ein. »Ein Bogenschütze?«
Mochta nickte. »Ja. Er sah aus wie ein berufsmäßiger Bogenschütze. Er sagte, er brächte mir eine Botschaft von meinem Bruder Baoill, der sich mit mir treffen wolle. Er betonte, daß aus verschiedenen Gründen, die er nicht näher erläuterte, Baoill sich mit mir allein und insgeheim treffen wolle. Der Bogenschütze wohnte in Creds Herberge. Also ging ich hin. Zum Glück sah mich niemand dort, denn dem Pater Abt war dieser Ort zuwider. Sein Zorn wäre groß gewesen, wenn er erfahren hätte, daß ich dort jemanden besuchte. Cred, die Herbergswirtin, sagte mir, der Bogenschütze erwarte mich in einem Zimmer im oberen Stockwerk. Dort fand ich auch meinen Bruder Baoill. Nachdem wir uns begrüßt hatten, wie es zwei Brüder tun, die sich lange nicht gesehen haben, redeten wir über Politik - hauptsächlich über Kirchenpolitik. Dabei wurden mir seine Ansichten deutlich. So bald er meine kannte, mied er plötzlich dieses Thema. Er war ein schlauer Bursche, mein Bruder. Er lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, indem er sagte, er habe gehört, daß ich einer der Schreiber sei, die an den >Annalen von Imleach< arbeiteten. Das bejahte ich. Er fragte mich, für welches Jahr ich die Gründung von Armagh ansetzte. Ich erklärte, daß ich sie in das Jahr unseres Herrn vierhundertvierundvierzig datierte. Weiter fragte er, für wann ich das Hinscheiden des heiligen Patrick verzeichnet habe. Ich nannte das Jahr unseres Herrn vierhundertundzweiundfünfzig. Diese Daten waren nicht strittig.
Erst als er sich nach den Lebensdaten des heiligen Ailbe und der Gründung von Imleach erkundigte, merkte ich, worauf er hinauswollte. Er erklärte mir, die Schreiber im Norden gingen davon aus, Ailbe hätte Imleach erst hundert Jahre nach dem Tod des heiligen Patrick gegründet.«
»Ich habe die Notizen gesehen, die du dir zu diesem Thema für die >Annalen< gemacht hast«, sagte Fi-delma und holte das Pergament aus ihrem Tragebeutel. Mochta warf einen Blick darauf und nickte.
»Ich bleibe bei dem, was ich geschrieben habe. Als ich Baoill darauf hinwies, es sei absurd, Ailbes Lebensdaten soviel später anzusetzen, denn er habe schon vor Patrick in Muman den Glauben verkündigt und mit Patrick zusammen den König von Muman -deinen Ahnherrn Oenghus Nad Froich - in Cashel getauft, begann sich Baoill wieder mit mir zu streiten.«
»Aber was hat dieses ganze Hickhack um Daten zu bedeuten?« fragte Eadulf, der dem Gespräch zu folgen versuchte, doch immer mehr durcheinandergeriet.
»Mein Bruder wollte mich überreden, Ailbe als nach Patrick kommend einzuordnen und niederzulegen, daß Ailbe und seine Anhänger Imleach erst gründeten, nachdem Armagh schon bestand. Er wollte sogar, ich solle behaupten, daß Ailbe nicht als Schutzpatron von Muman zu betrachten sei und Cashel die Bezeichnung >Felsen Patricks< zu tragen habe. Ich sollte in meiner Chronik den Anspruch von Armagh unterstützen, es habe nach historischem Recht den Vorrang im Glauben in allen fünf Königreichen.«
Fidelma schaute düster drein. »Ich kenne den Ehrgeiz Ultans von Armagh. Er ist nicht der erste Co-marb von Patrick, der für Armagh die führende Stellung in allen fünf Königreichen beansprucht und alle Kirchen der Ordnung Roms unterwerfen möchte. Dazu muß er zuerst dafür sorgen, daß Imleachs Anspruch auf die führende Stellung in Muman in Zweifel gezogen wird. Aber darum geht es doch wohl nicht bei all diesen Ereignissen?«
»Das weiß ich selber kaum, Schwester«, gestand Bruder Mochta. »Ich weiß nur, daß mein Bruder das Thema noch einmal wechselte und auf die heiligen Reliquien Ailbes zu sprechen kam. Wie schlau er das anstellte! Er machte sich meine Eitelkeit zunutze. Ich hatte ihm erzählt, daß einige der Reliquien Daten trugen, aus denen hervorging, wann Ailbe Bischof wurde. Er meinte, das würde er mir erst glauben, wenn er die Reliquien gesehen hätte. Ich sagte ihm, er solle in die Abtei kommen, doch er weigerte sich mit der Begründung, es sei nicht schicklich, wenn mein Zwillingsbruder mit römischer Tonsur in Imleach gesehen würde. Es war ein dummer Vorwand, aber ich dachte mir nichts dabei. Also schlug ich vor, er solle sich am nächsten Abend heimlich an der Tür einstellen, die in Bardans Kräutergarten führt, und dort würde ich ihm die Reliquien zeigen. Er erklärte sich einverstanden und versicherte, das würde den Streit zwischen Armagh und Imleach entscheiden.«
»Es war naiv von dir, ihm das zu glauben«, meinte Fidelma nachdenklich.
»Er war mein Bruder. Selbst da durchschaute ich seine Verschlagenheit noch nicht.«
»Was geschah dann?«
»Am nächsten Abend ging ich zur verabredeten Zeit in die Kapelle und holte unbemerkt das Reliquiar. Ich wollte es zum Treffpunkt mitnehmen, überlegte es mir aber anders. Vielleicht war mir doch ein Verdacht gekommen, denn ich nahm nur Ailbes Kruzifix zum Beweis mit, weil auf seiner Rückseite das Datum, wann Ailbe Bischof wurde, eingeritzt ist. Damit ging ich zur Tür des Kräutergartens. Draußen stand mein Bruder mit dem Bogenschützen ... Gott vergebe Ba-oill! Er riß mir das Kruzifix aus der Hand und wollte wissen, wo die übrigen Reliquien wären. Als er begriff, daß ich sie nicht mitgebracht hatte, geriet er völlig außer sich. Er schlug mich so, daß ich gegen den Pfosten fiel und mir eine blutende Wunde zuzog.«