»Das erklärt das getrocknete Blut an dem Türpfosten«, stellte Eadulf fest.
»Da wurde mir klar, daß mein Bruder von Anfang an die Absicht gehabt hatte, die Reliquien zu stehlen.«
»Meinst du, daß es sein eigener Plan war oder daß ihn jemand damit beauftragt hatte?« fragte Fidelma. »Ultan von Armagh zum Beispiel? Offensichtlich sollten sowohl Ailbe als auch Imleach in Verruf gebracht werden.«
»Ich weiß nur, daß mein Leben in Gefahr war. Ich glaube, mein Bruder hätte mich getötet. Dann kam Bruder Bardan dazu. Er wollte Kräuter sammeln gehen. Er sah, daß ich angegriffen wurde, und mit seinem Stab wehrte er meinen Bruder und seinen Gefährten ab. Ailbes Kruzifix hatten sie. Als Bardan die Tür verriegelte, drohte mein Bruder, daß andere kommen und das holen würden, was ich nicht herausgeben wollte.«
»Das deutet darauf hin, daß dein Bruder Baoill und sein Freund, der Bogenschütze, nicht aus eigenem Antrieb handelten.«
Bruder Mochta nickte.
»Das ist richtig. Ich war zu erschüttert, um das zu dem Zeitpunkt zu begreifen. Bardan brachte mich zurück in meine Zelle, und ich erzählte ihm die Geschichte so, wie ich sie verstand. Er drängte mich, Abt Segdae sofort mitzuteilen, daß Ailbes Kruzifix gestohlen worden sei. Dazu konnte ich mich nicht durchringen, denn ich wollte Baoill Zeit lassen, über sein Verbrechen nachzudenken und das Kruzifix zurückzubringen. Ich wollte immer noch nicht glauben, daß mein Bruder so ein verruchter Mensch geworden sei.«
»Offensichtlich brachte er es aber nicht zurück«, warf Eadulf ein.
»Ein paar Tage vergingen. Er ließ sich nicht blicken. Ich beschloß, nach ihm zu suchen.«
»War das nicht gefährlich?«
»Ich bat Bruder Bardan, mich zu begleiten. Wir gingen zu Creds Herberge. Dort trafen wir einen der Kutscher des Kaufmanns aus Cashel, der mich merkwürdig musterte.«
»Weil er dich einige Tage zuvor hatte in die Herberge kommen sehen«, brummte Eadulf.
»Ich hatte ihn nicht gesehen.«
»Er hatte dich aber gesehen.«
»Nun, Cred kam heraus, und ich erklärte ihr, daß ich den Bogenschützen und seinen Gefährten suchte. Sie sagte, sie wüßte nichts von einem Gefährten .«
»Damit hatte sie recht«, warf Fidelma ein. »Dein Zwillingsbruder konnte sich wegen seiner Ähnlichkeit mit dir nicht im Ort blicken lassen, denn er wäre aufgefallen. Er blieb außerhalb.«
»Cred meinte, der Bogenschütze sei auf der Jagd in den Bergen«, fuhr Bruder Mochta fort. »Bardan und ich wanderten ziellos in den Bergen umher, in der Hoffnung, den Bogenschützen zu treffen. Dann machten wir uns auf den Rückweg zur Abtei. Bardan ließ die Seitentür meist offen, und wir gingen auf den Kräutergarten zu. Wir waren bei den Eibenbäumen hinter dem Heidefeld, nicht weit von der Tür, als mein Bruder plötzlich auftauchte. Anscheinend hatte er auf uns gewartet.
Ich verlangte das Kruzifix zurück, das er gestohlen hatte, und er wollte von mir das Reliquiar samt seinem ganzen Inhalt haben. Er drohte mir. Ich weigerte mich, und da lachte er und sagte, er wolle es mir nur leicht machen. An den nächsten Besuchern in Imleach würden wir keine Freude haben.«
»Was dann?«
»Ich erklärte ihn für verrückt. Er erwiderte, er habe die Unterstützung eines mächtigen Fürsten und Mu-man sei verrückt, wenn es sich nicht in das Unvermeidliche schicke. Es werde ein Primat für alle fünf Königreiche geben und ebenso einen weltlichen Machthaber über alles.«
Fidelmas Miene erhellte sich. »Waren das genau seine Worte?«
»Ja. Das waren genau seine Worte.«
»Ich glaube, ich kann die Hand von Mael Düin, dem König von Ailech, in dieser Verschwörung erkennen. Was die Comarbs von Patrick für Armagh erstreben, das wollen die Ui-Neill-Könige für ihre Dynastie erreichen. Sie wollen das Großkönigtum von Eireann in eine starke Zentralherrschaft wie die der römischen Kaiser umwandeln. Das Geheimnis klärt sich allmählich auf. Sprich weiter, Mochta. Was geschah dann?«
»Bardan und ich, wir wandten uns angewidert ab und ließen Baoill weiter toben. Wir gingen über das Feld auf die Tür zu ...«
»Wir kennen die Stelle«, warf Eadulf ein.
»Mitten auf dem Feld hörten wir ein Pfeifen in der Luft, und im nächsten Moment durchfuhr ein Schmerz meine Schulter.« Er hob die Hand und berührte seine Wunde. »Ich fiel vornüber. Bardan sagte später, er habe den Bogenschützen, den Gefährten meines Bruders, am Rande der Eibenbäume stehen sehen, wie er gerade einen neuen Pfeil auf die Bogensehne legte. Bardan packte mich und schob und zog mich auf die Tür zu. Wir hatten sie gerade erreicht, als der zweite Pfeil mich am Bein traf.«
»Hat niemand in der Abtei das beobachtet?«
Mochta schüttelte den Kopf. »Ihr kennt die Gegend. Sie ist von keinem Fenster aus einzusehen, und meistens ist dort keiner. Bardan half mir herein, verriegelte die Tür und brachte mich in meine Zelle. Als Apotheker konnte er die Pfeile herausziehen, die Gott sei Dank nicht tief eingedrungen waren, und die Wunden verbinden.
Dann besprachen wir, was wir am besten tun sollten. Es war uns klargeworden, daß mein Bruder und sein Freund Mitglieder einer Verschwörung waren, die das Ziel hatte, Muman und Imleach in Verruf zu bringen. Doch warum? Den Zweck kenne ich nicht. Was mich unmittelbar bewegte, war die Drohung, die Abtei anzugreifen und die Reliquien zu rauben. Ich fürchtete, bei einem solchen Überfall würden viele Brüder getötet werden.
Wir redeten lange darüber, und dann entschieden wir, daß ich mit den verbliebenen Reliquien ver-schwinden sollte. Bardan würde dafür sorgen, daß am nächsten Tag die Nachricht, die Reliquien und ich seien fort, überall verbreitet würde. Dadurch hofften wir, jeden Überfall auf die Abtei abzuwenden und die Gemeinschaft zu retten.
Niemand hatte mich gesehen, als ich verwundet in die Abtei zurückkam. Nachdem meine Wunden verbunden waren, ging ich zum Abendgebet, obwohl ich starke Schmerzen hatte. Anschließend schleppte ich mich in meine Zelle zurück.
Bardan holte das Reliquiar aus der Kapelle und brachte es mir. Wir richteten meine Zelle so her, daß es aussah, als wäre ich gegen meinen Willen fortgeschleppt worden. Wir nahmen nur wenige Dinge mit. Einen der Pfeile, die mich getroffen hatten, legte ich sichtbar hin, in der Hoffnung, er werde meinen Angreifer verraten.«
»Den haben wir gefunden«, bemerkte Eadulf.
»Dann führte mich Bardan hierher. Er stammt von hier, und daher kennt er diese Höhle. Sie wird nur selten benutzt. Er meinte, hier könnte ich mich verbergen, bis Baoill und seine Freunde offen aufträten. Einen Tag später kamt ihr in die Abtei mit der Nachricht, daß mein Bruder und sein Gefährte bei dem Versuch, Colgü und den Fürsten der Ui Fidgente zu ermorden, getötet wurden. Bardan sagte, die Lage sei nicht so einfach, wie es scheine, denn die Hintermänner der Verschwörung seien noch nicht bekannt. Das bedeutete, daß wir uns unsere nächsten Schritte gut überlegen und genau abwägen mußten, wem wir trauen könnten.«
Fidelma seufzte. »Ich wünschte, ihr hättet mir eher vertraut.«
»Es hätte nichts an dem Angriff auf die Abtei geändert«, wandte Bruder Mochta ein.
»Wer, meinst du, waren die Angreifer? Krieger des Königs von Ailech, die Armaghs Plan, hier die Herrschaft zu erringen, befördern sollen?« fragte Eadulf.
»Nein, ich glaube, es waren Ui Fidgente«, erwiderte Bruder Mochta. »Anfang des Jahres gab es Gerüchte, daß die Ui Fidgente sich um ein Bündnis mit den Ui-Neill-Königen im Norden gegen Cashel bemühten. Sie haben Colgü ihre Niederlage bei Cnoc Äine und den Tod ihres Königs nicht verziehen. Sie wollten sich mit den Ui Neill und mit Armagh verbünden, um Cashel geschwächt und besiegt zu sehen. Wie kann man ein Königreich besser niederwerfen, als wenn man es teilt?«
»Da magst du recht haben, Mochta«, pflichtete ihm Fidelma bei. Sie hielt inne und überlegte. »Du bist mit Bardan eng befreundet, nicht wahr?«