»Natürlich nicht«, versicherte ihr der Junge.
»Beobachte sie nur und komm und sag mir Bescheid, wann sie das Gasthaus verlassen und welche Richtung sie einschlagen. Tu es heimlich, ohne daß sie es merken.«
»Sobald sie aufbrechen?«
»Ja, ganz gleich zu welcher Zeit.«
Der Junge lächelte glücklich. »Du kannst dich auf mich verlassen, Schwester. Jetzt muß ich aber eure Pferde absatteln. Großvater macht inzwischen das Essen für dich und deine Freunde.«
Als Fidelma Eadulf und Bruder Mochta davon berichtete, fragte Eadulf: »Ist es klug, den Jungen da hineinzuziehen?«
Bruder Mochta fügte ängstlich hinzu: »Bist du sicher, daß er sich nicht verrät?«
»Ja, bin ich. Er ist ein schlauer Bursche. Ich muß wissen, wann Samradan morgen mit seinen Wagen von hier wegfährt.«
»Warum hast du dem Jungen gesagt, sie wären Räuber?« fragte Eadulf.
»Weil es stimmt«, versicherte ihm Fidelma. »Weißt du, was ich auf den Wagen gefunden habe? Schürfwerk-zeuge und Säcke mit Erz. Was sagt dir das, Eadulf?«
Der Angelsachse schüttelte verständnislos den Kopf.
»Steine ... Erz ... Bergwerksgerät!« half ihm Fidel-ma auf die Sprünge. Endlich begriff Eadulf.
»Du meinst, die bauen das Silber in den Höhlen ab?«
»Genau. Ich hatte davon gehört, daß es weiter südlich von hier Bergwerke gibt, aber ich wußte nicht, daß man in diesen Bergen hier Silber findet, bis wir es entdeckten. Wem die Silberader auch immer gehört, Samradan jedenfalls nicht. Er beutet sie unrechtmäßig aus, so lauten die Urteile im Senchus Mor.«
Bruder Mochta stieß einen leisen Pfiff aus. »Hat Samradan auch etwas mit dem übrigen Teil des Rätsels zu tun?« fragte er.
»Das weiß ich noch nicht«, gestand Fidelma. »Als erstes müssen wir jetzt etwas essen, und danach sehen wir, was sich noch machen läßt. Ich hoffe, Aona bringt uns bald unsere Mahlzeit.«
Es war noch stockdunkel, da wurde Fidelma aus dem Schlaf gerüttelt. Mühsam kam sie zu sich und schaute blinzelnd in das aufgeweckte Gesicht Adags.
»Was ist?« murmelte sie verschlafen.
»Die Räuber«, zischte der Junge. »Sie sind weg.«
»Die Räuber?«
»Die Männer mit den Wagen«, erklärte er ungeduldig.
Jetzt war Fidelma hellwach. »Ach so. Wann sind sie aufgebrochen?«
»Vor ungefähr zehn Minuten. Ich bin nur wach geworden, weil ich ihre Wagenräder übers Steinpflaster der Straße da draußen hab rumpeln hören.«
Fidelma blickte auf ihre friedlich schlummernden Gefährten.
»Wenigstens du hast aufgepaßt, Adag«, lächelte sie. »Wir haben nichts mitbekommen. In welche Richtung sind sie gefahren?«
»Sie nahmen die Straße nach Cashel.«
»Schön. Das hast du gut gemacht, Adag, und . « Sie hielt inne.
Draußen auf dem Hof war Hufschlag zu hören. »Kommen sie etwa zurück?« fragte sie Adag rasch.
Eadulf wälzte sich im Schlaf herum, wachte aber nicht auf. In dem Moment wurde Fidelma klar, daß der Hufschlag nicht von Tragtieren oder Zugpferden kam, sondern von den beschlagenen Hufen von Streitrossen.
Schnell erhob sie sich von ihrem Strohsack und trat zum Fenster, hielt sich aber verborgen und lüftete nur eine Ecke des Vorhangs.
Im Hof bewegten sich die Schatten von sieben Reitern. Im schwachen, unruhigen Licht der Gasthauslaterne, die die ganze Nacht brennen mußte, erkannte sie mit stockendem Atem das spitze, vogelartige Gesicht Solams und ihren Vetter Finguine. Sie wurden von vier Kriegern begleitet. Das Gesicht des siebenten Mannes blieb undeutlich. Als sie Finguine zuletzt sah, hatte sein Trupp nur aus sechs Mann bestanden.
»Adag«, flüsterte sie dem Jungen zu, »geh mal runter und frag, was sie wollen. Antworte ihnen ehrlich, aber sage ihnen auf keinen Fall, daß wir hier sind. Schwörst du das auf Leben und Tod?«
Der Junge nickte und ging gehorsam los.
Sie kehrte zum Fenster zurück und spähte durch den Spalt des Vorhangs hinunter. Sie hörte, wie ihr Vetter Finguine sagte: »Es ist klar, daß sie nicht hier sind, So-lam. Es lohnt sich nicht, den Gastwirt zu wecken.«
»Besser, man vergewissert sich, als daß man von einer Vermutung ausgeht, die falsch sein kann«, erwiderte der Anwalt der Ui Fidgente.
»Na gut.« Er wandte sich an einen seiner Männer. »Hol den Gastwirt und . nein, warte, da kommt jemand.«
Adag kam aus dem Stall heraus, und Fidelma sah, wie er sich den Reitern näherte.
»Kann ich euch helfen, Lords?« fragte er mit vor Stolz hoher Stimme.
»Wer bist du denn, mein Junge?« wollte Solam wissen.
»Ich bin Adag, der Sohn des Gastwirts hier.«
Eadulf richtete sich auf seiner Matratze auf.
»Was ist ...?« fragte er.
Fidelma legte rasch den Finger an die Lippen. Als sie wieder aus dem Fenster schaute, sah sie, wie der Junge auf die Straße nach Cashel zeigte.
»Du hast uns sehr geholfen, Junge«, sagte Finguine. »Hier, das ist für dich!«
Eine Münze blinkte in der Luft.
Adag fing sie geschickt auf.
Finguine stieß seinem Pferd die Sporen in die Weichen, und der ganze Trupp trabte vom Hof und in Richtung Cashel davon. Erst da erfaßte Fidelmas Blick im Lampenlicht für einen Moment das Gesicht des siebenten Reiters. Es war Nion, der bo-aire von Imleach.
Fidelma zog den Vorhang zu und seufzte tief auf.
»Was geht denn vor?« wollte Eadulf wissen.
Sie schaute auf den schlafenden Bruder Mochta und dann zur Treppe, die Adag mit strahlendem Gesicht heraufgestürmt kam.
»Sie sind nach Cashel losgeritten, Schwester«, verkündete er atemlos.
»Was wollten sie denn?«
»Sie wollten wissen, ob sich diese Nacht jemand im Gasthaus aufhalte. Ich hab ihnen gesagt, es wären ein paar Männer mit Wagen dagewesen, die nach Cashel weitergefahren sind. Von dir und deinen Freunden hab ich nichts gesagt. Die Reiter bedankten sich und ritten in Richtung Cashel weiter. Sie interessierten sich anscheinend sehr für die Wagen.«
Eadulf schaute verwundert zwischen ihr und dem Jungen hin und her.
»Die Reiter waren Finguine und Solam«, erläuterte Fidelma langsam. »Und Nion war bei ihnen.«
Kapitel 20
Die Reise vom Brunnen von Ara bis nach Cashel verlief ohne Zwischenfälle. Überraschenderweise bewachten keine Krieger mehr die Brücke über den Fluß Suir an der kleinen Gabelung von Gabhailin, wo Fi-delma und Eadulf vor wenigen Tagen auf dem Hinweg der Übergang verwehrt worden war. Fidelma meinte, es sei logisch, daß Gionga seine Krieger abgezogen hätte, als er erfuhr, daß Fidelma Imleach erreicht hatte.
Es war Eadulf, der das Problem ansprach, das Fi-delma seit dem Aufbruch aus Aonas Gasthaus am meisten beschäftigte.
»Ist es klug, Bruder Mochta nach Cashel zu schaffen?« fragte er. »Dort könnten die verschiedensten Gefahren auf ihn lauern, und es dauert noch mehrere Tage, bis die Brehons zur Verhandlung zusammentreten.«
Bruder Mochta fühlte sich nach der Nachtruhe etwas besser, seine Wunden schmerzten weniger.
»Unter den Brüdern in Cashel kann mir doch nichts passieren«, meinte er.
»Ich sähe es lieber, wenn erst im letzten Moment bekannt wird, daß du und das Reliquiar sich in Cashel befinden«, erklärte Fidelma. »Es gibt einen kaum benutzten Weg, der uns an den Rand der Stadt zu einem Haus führt, wo eine Freundin von mir wohnt. Bei ihr kann Mochta bis zum Tag der Verhandlung bleiben.«
»In der Stadt selbst?« wandte Eadulf ein. »Ist das günstig?«
Er spielte auf die Tatsache an, daß die Leute in den Städten kaum jemals ihre Türen verriegelten und in den Nachbarhäusern ständig aus und ein gingen. Städte bestanden zumeist aus den Wohnstätten von Großfamilien. Niemand dort hatte Scheu vor Fremden.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Fidelma. »Meine Freundin gehört nicht zu denen, die häufig Gäste haben.«