Der Fürst von Cnoc Äine drehte sich um und schritt davon, sein Temperament war wohl mit ihm durchgegangen.
Eadulf schüttelte verwundert den Kopf. »Dieser junge Mann ist ein rechter Hitzkopf«, stellte er fest.
»Er wird Dornen säen und dann Rosen ernten wollen, wenn man ihn nicht davon abhält«, pflichtete ihm Fidelma ernst bei.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, und sie erreichten eine schützende Zinne. Sie beugten sich vor und schauten auf die Stadt. Obwohl es schon spät war, schien sie voller Leben: Pferde, Reiter, Wagen und Menschen drängten sich in den Straßen.
»Wie Zuschauer, die auf den Beginn eines Schauspiels warten«, meinte Eadulf. »Es sieht aus wie an einem Markttag.«
Fidelma antwortete nicht. Sie wußte, daß ihr Vetter Finguine für viele von denen sprach, die sich dort unten versammelten. Doch wenn ihn ein solcher Zorn auf die Ui Fidgente erfüllte, wieso steckte er dann mit Solam zusammen? Sie konnte nicht recht glauben, daß er Solam lediglich aus Pflichtgefühl Geleitschutz nach Cashel gegeben hatte. Warum ritten er und Solam durch den Wald und suchten nach Bruder Mochta und den heiligen Reliquien? Was wußten sie davon? Nein, irgend etwas stimmte da nicht.
Ihr Blick fiel plötzlich auf das Dach des Lagerhauses auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes. Es war Samradans Lagerhaus.
»Samradans Lagerhaus«, sprach sie nachdenklich. »Ich glaube, ein Teil unserer Lösung ist dort zu finden.«
»Das verstehe ich nicht ganz«, erwiderte Eadulf und folgte ihrem Blick.
»Macht nichts. Heute abend, wenn es dunkel ist, werden wir Samradans Lagerhaus einen Besuch abstatten. Dort hat die ganze Geschichte begonnen. Ich habe plötzlich das Gefühl, daß wir von dort aus auch zur Lösung des Rätsels gelangen werden.«
Kapitel 21
Gehorsam folgte Eadulf Fidelma in die Nacht hinaus. Sie verließen die düsteren Mauern des Palasts durch eine kleine Seitentür, um den neugierigen Blicken der Wachen am Haupttor zu entgehen. Die Dunkelheit hatte sich wie ein Leichentuch über die Stadt gebreitet. Niedrig ziehende Wolken verhüllten den Mond.
Immerhin schaffte es der helle Mond, ab und zu durch Wolkenlücken zu brechen und das Land für Augenblicke in ein Licht zu tauchen, das fast taghell erschien. Außer den Lichtern, die aus den Gebäuden schimmerten, ließ auch beißender Rauch aus zahlreichen Schornsteinen erkennen, daß die Menschen sich bemühten, die Herbstkälte zu vertreiben. In der Stadt gab es nur wenig Bewegung. Die meisten Besucher, die sich noch vor wenigen Stunden in den Straßen drängten, hatten sich in die Gasthäuser und Herbergen zurückgezogen, aus denen gedämpfter Lärm zu vernehmen war. Gelegentlich bellte ein Hund, und ein paarmal kreischten Katzen, die sich um ein Revier balgten.
Fidelma und Eadulf erreichten den Marktplatz, ohne daß sie irgend jemand bemerkt hätte.
»Das ist Samradans Lagerhaus«, erklärte Fidelma überflüssigerweise, denn Eadulf hatte die Ereignisse bei dem Attentatsversuch noch gut in Erinnerung. Das Lagerhaus stand dunkel und verlassen da.
Rasch überquerten sie den Platz, und Fidelma ging sofort zur Seitentür des Gebäudes. Sie war verschlossen.
»Ist sie von innen verriegelt?« fragte Eadulf, als Fi-delma vergeblich daran rüttelte.
»Nein. Ich glaube, sie ist nur abgeschlossen.«
Sie benutzte das Wort glas. Irische Schlosser waren sehr geschickt in der Herstellung von Schlössern, Schlüsseln und sogar Türketten zur Sicherung von Gebäuden und Zimmern. Manche Schlösser waren sehr kompliziert. Doch als Student in Tuaim Brecain hatte Eadulf auch die Kunst gelernt, ein Schloß durch Einführen eines Metallstifts in das poll-eochrach oder Schlüsselloch zu öffnen. Er langte in seine Tasche, holte ein kurzes Stück Draht hervor, das er immer bei sich trug, und grinste im Dunkeln.
»Dann tritt mal beiseite. Du brauchst einen Experten«, verkündete er und machte sich an dem Schloß zu schaffen.
Er benötigte länger als erwartet und spürte Fidel-mas wachsende Ungeduld. Er wünschte schon, er wäre nicht so zuversichtlich gewesen, doch dann vernahm er das verräterische Klicken, das ihm seinen Erfolg anzeigte.
Er faßte den Griff, und die Tür ging nach innen auf.
Wortlos trat Fidelma ein. Er folgte ihr und schloß die Tür sorgfältig hinter ihnen.
Im Lagerhaus war es dunkel, sie sahen nichts.
»Ich habe Feuerstein, Zunder und ein Stück Kerze bei mir«, flüsterte Eadulf.
»Wir dürfen kein Licht machen, damit man uns nicht von draußen sieht«, erwiderte Fidelma. »Warte einen Moment, bis sich unsere Augen an das Dunkel gewöhnen.«
Da brach der Mond wieder durch die Wolken, und sein Licht fiel durch die Fenster des Lagerhauses. Es war ein einfaches Gebäude. Es hatte kein oberes Stockwerk, nur das flache Dach, auf dem sich die Attentäter postiert hatten. An der Rückseite waren Stoffballen aufgestapelt, und es gab Boxen, in denen Samradan offenbar seine Zugpferde einstellte. Den meisten Raum nahmen zwei schwere Wagen ein, die Fidelma und Eadulf zuletzt im Hof von Aonas Gasthaus gesehen hatten.
Die Planen der Wagen waren zurückgeschlagen, und sie konnte erkennen, daß nur noch die Werkzeuge auf ihnen lagen.
»Samradan hat anscheinend die Säcke mit dem Silber und dem Erz mitgenommen«, murmelte Fidelma und schaute sich um. Dann stöhnte sie auf.
»Bist du krank?« fragte Eadulf erschrocken.
»Krank vor Dummheit«, seufzte Fidelma. »Warum bin ich nicht früher darauf gekommen: Erz muß in einer Schmiede erhitzt und das Silber ausgeschmolzen werden.«
»Natürlich.«
»Als ich gestern abend den Wagen durchsuchte und die Säcke fand, enthielten einige von ihnen schon Silber! Es war bereits aus dem Erz herausgeschmolzen. Samradan stand ein guter Schmied zur Verfügung, bevor er von Imleach nach Cashel aufbrach.«
»Als er Imleach verließ, muß er mit dem Erz zu einer Schmiede gefahren sein«, meinte Eadulf. »Uns hat er gesagt, er wolle nach Norden, doch damit wollte er uns irreführen.«
»So sieht es aus. Aber warum hat der Schmied nicht das ganze Erz ausgeschmolzen?«
Der Mond verschwand hinter einer Wolke, und das Lagerhaus lag wieder im Dunkeln.
Fidelma schwieg. Darüber lohnte es sich nachzudenken. Sie lächelte in der Finsternis. Sie erkannte, daß sie die Antwort schon wußte. Wieder stahl sich das Mondlicht durch die hohen Fenster und erhellte das Innere des Lagerhauses.
»Hast du genug gesehen?« fragte Eadulf.
»Warte noch einen Moment«, bat ihn Fidelma.
Sie wanderte im Lagerhaus umher, schaute in die Pferdeboxen. Vor den Stoffballen ließ sie sich plötzlich auf die Knie nieder und zog an etwas.
»Eadulf, komm her und hilf mir. Ich glaube, hier führt eine Klapptür in den Keller. Hilf mir mit dem Riegel.«
Eadulf kam herbei. Er sah die hölzerne Klappe mit den beiden eisernen Riegeln. Vorsichtig zog er sie zurück und hob die Klappe an. Unten war alles schwarz. Hierhin gelangte nicht einmal das blasse Mondlicht.
Er wollte etwas sagen, doch Fidelma winkte ihm zu schweigen.
Etwas bewegte sich in der Dunkelheit dort unten.
»Ist dort jemand?« rief Fidelma leise.
In der Stille hörten sie ein Rascheln, doch es kam keine Antwort.
»Wir versuchen es mit der Kerze, aber halte sie bedeckt, bis wir sehen, was sich im Keller befindet«, ordnete Fidelma an.
Eadulf suchte in seinem Lederbeutel, fand den Kerzenstummel und machte sich mit Feuerstein und Zunder zu schaffen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die Kerze brannte.
Er schirmte die Kerze sorgfältig mit der Hand ab und beugte sich über die Öffnung der Kellerluke.
Stufen führten hinunter in einen Raum mit Steinmauern, der nicht höher war als ein großer Mann. Er maß etwa zweieinhalb Meter im Quadrat. In einer Ecke lag ein Strohsack. Sonst gab es dort kaum etwas - nur den ihnen mit weit aufgerissenen Augen und einem Knebel im Mund entgegenstarrenden, an Händen und Füßen gefesselten Bruder Bardan.