Mit einem überraschten Ausruf stieg Eadulf die Stufen hinunter, gefolgt von Fidelma.
Eadulf hielt die Kerze, und Fidelma nahm ein Messer aus ihrem Tragebeutel, durchschnitt die Handfesseln des Mönchs und befreite ihn von dem Knebel. Während er tief Luft holte, durchtrennte sie die Fußfesseln.
»Na, Bruder Bardan, was machst du denn hier?« fragte sie ihn fast belustigt.
Bardan rang immer noch nach Luft. Er hustete und keuchte. Schließlich fand er die Stimme wieder.
»Samradan! Dieser üble ...«
Er hielt inne und sah Fidelma und Eadulf fragend an.
»Wieviel wißt ihr eigentlich?«
»Wir haben Bruder Mochta gefunden, und er hat uns von deinem Anteil an seinem ... na, Verschwinden erzählt. Ich nehme an, du warst auf dem Wege durch die Geheimgänge zu Bruder Mochta, als du auf Samradan trafst?«
Bruder Bardan nickte rasch. »Ich wollte Bruder Mochta holen und ihn zum Fürsten von Cnoc Äine bringen. Er hatte uns seinen Schutz zugesagt.«
»Also hattest du meinen Vetter Finguine davon unterrichtet, wo sich Bruder Mochta und die heiligen Reliquien befanden?«
»Nicht genau. Ich sah Finguine beim mitternächtlichen Angelus und erzählte ihm, ich wüßte, wo sich Bruder Mochta mit den heiligen Reliquien versteckt hielt und warum, weil er nämlich für ihre Sicherheit und sein eigenes Leben fürchtete.«
»Hast du erwähnt, daß er sich in einer Höhle versteckt hatte?«
»Ja, aber nicht, in welcher Höhle. Ich versprach Finguine, ich würde Bruder Mochta holen und ihn am nächsten Morgen zu ihm bringen.«
»Ich sah, wie du nachts in der Kapelle mit Finguine sprachst«, erinnerte sich Eadulf.
»Was habt ihr genau verabredet?« wollte Fidelma wissen.
»Ich stimmte zu, daß Finguine die Reliquien in seinen Schutz nehmen und Mochta nach Cashel bringen sollte.«
Das erklärte, weshalb sie Finguine und seine Männer im Wald getroffen hatte, doch warum war Solam dabei?
»Hat Finguine etwas davon gesagt, daß er Solam in das Geheimnis einweihen wollte?« fragte sie.
»Solam? Den dalaigh der Ui Fidgente? Ich habe alles getan, um ihn zu täuschen.«
»Du hast ihm vom Kruzifix erzählt.«
»Nicht mehr, als er schon wußte.«
»Hast du absichtlich vorgegeben, der abgetrennte Unterarm stamme von Bruder Mochta, um uns zu täuschen?«
»Ich wußte, daß ihr, du und Solam, nach Mochta suchtet. Mochta und ich brauchten Zeit, um zu überlegen, was wir tun sollten. Wem konnten wir trauen? Als ich das Finguine erklärte, verstand er uns.«
»Du hast Finguine also mehr vertraut als mir?«
Bruder Bardan schaute verlegen drein.
»Mach dir deshalb keine Vorwürfe, Bardan. Mochta hat mir erzählt, weshalb du nicht offen zu mir warst. Es war dumm, ist aber wohl zu begreifen. Traust du mir jetzt?«
»Samradan und seine Leute haben genug verraten, um mich zu überzeugen, daß es ein Fehler war, dir nicht zu trauen.«
»Samradan! Erzähl uns erst mal, wie du in diesen Keller geraten bist«, forderte ihn Eadulf auf.
»Um mein Versprechen Finguine gegenüber zu hal-ten, stand ich früh auf und eilte durch den Geheimgang zu Bruder Mochta. Ich wollte ihn zu dem Treffpunkt mit Finguine bringen. Als ich an die Stelle kam, von der zwei Gänge abzweigen ...«
»Die kennen wir«, unterbrach ihn Fidelma. »Erzähl weiter.«
Bruder Bardan schaute sie überrascht an. »Die kennt ihr?« Aber für Fragen war jetzt keine Zeit. »Nun, als ich dort ankam, hörte ich ein Geräusch im anderen Gang. Ich erinnere mich noch, daß ich darauf zuging, denn ich war um Mochtas Sicherheit besorgt und dachte, er wäre entdeckt worden . Dann weiß ich nichts mehr. Ich glaube, jemand schlug mich auf den Kopf und ich wurde bewußtlos. Mein Kopf tut jetzt noch weh.«
»Und was ist mit Samradan?« erkundigte sich Fi-delma.
»Als ich zu mir kam, war ich an Händen und Füßen gefesselt und hatte einen Knebel im Mund, so wie ihr mich hier gefunden habt, aber ich lag hinten auf einem Wagen unter einer Plane. Der Wagen holperte offenbar über einen Landweg. Dann hörte ich Samradans Stimme. Die kannte ich gut, denn er hatte oft in der Abtei übernachtet.«
»Weiter«, mahnte ihn Eadulf.
»Für eine Weile verlor ich wieder das Bewußtsein. Dann kam ich erneut zu mir, und schließlich hielten die Wagen. Wahrscheinlich war es Nachmittag. Die Leute aßen, und dann hörte ich, wie sie heftig auf dich und den angelsächsischen Bruder schimpften, weil ihr ihnen in die Quere gekommen wart und sie gezwungen hattet, ihre Pläne zu ändern. Dann vernahm ich etwas Seltsames.«
»Was denn?« fragte Fidelma.
»Hufschlag von Pferden, die sich der Stelle näherten, an der Samradan und seine Leute hielten. Samra-dan wurde von dem offenkundigen Anführer der Reiter mit Namen begrüßt. Dessen Stimme kannte ich nicht. Es war niemand aus Muman, der Mann sprach mit nördlichem Akzent.
Nach der Begrüßung merkte ich, wie sich jemand an der Plane zu schaffen machte. Ich lag mit geschlossenen Augen da. Jemand schüttelte mich, aber ich atmete tief und gleichmäßig und rührte mich nicht. Eine Stimme sagte: >Er ist noch bewußtlos. Wir können offen miteinander reden.< Dann wurde die Plane wieder geschlossen.«
»Worüber wurde geredet?«
»Samradan beklagte sich, daß bei dem Überfall die Schmiede zerstört worden war und er sich nun jemand anderes suchen müsse, der das Silber ausschmolz. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Sein Gesprächspartner lachte nur. Er sagte, daran ließe sich nichts ändern. Samradans illegale Geschäfte gingen weder ihn noch den Comarb etwas an. Samra-dan protestierte und sagte, der rigdomna habe sie gebilligt und er habe mit dessen Einverständnis gehandelt. Der andere erwiderte, soviel er wisse, sei Samra-dan lediglich ein Bote zwischen dem rigdomna und dem Comarb.«
»Beide sprachen von einem rigdomna?« fragte Fi-delma.
»Ja. Der Mann betonte noch einmal, was Samradan tue, ginge ihn nichts an, er habe seine Befehle. Er sei nur dem Comarb Rechenschaft schuldig. Dann entfernten sie sich vom Wagen und waren außerhalb meiner Hörweite.«
»Und du bist sicher, daß sie von einem Comarb sprachen?« wollte sie wissen.
»Meinst du, ich wüßte nicht, was dieser Titel bedeutet?« antwortete Bruder Bardan. »Es gibt nur zwei Comarbs in den fünf Königreichen, den Comarb von Ailbe und den Comarb von Patrick.«
Eadulf stieß einen leisen Pfiff aus.
»Was geschah dann?« drängte Fidelma. »Hast du noch mehr erfahren?«
»Nach einer Weile hörte ich, wie die Reiter fortritten. Kurz danach wurde die Plane zurückgeschlagen. Es war Samradan, und ich hatte keine Zeit mehr, mich bewußtlos zu stellen. Er nahm mir den Knebel aus dem Mund und drohte, ihn mir wieder hineinzustek-ken, wenn ich nur ein Wort sagte. Er gab mir zu trinken und zu essen und legte dann den Knebel sofort wieder an. Zweifellos glaubte er, ich wäre gerade erst zu mir gekommen und hätte nichts von seinem Gespräch mit den Reitern gehört. Er machte die Plane wieder fest. Nach einiger Zeit ging es weiter.
Es war eine schreckliche Fahrt. Ich merkte, daß es Nacht wurde, alles war dunkel. Die Wagen hielten an. Ich schlief ab und zu. Es war ruhig und still. Gele-gentlich wachte ich auf und glaubte Stimmen zu hören. Einmal kam es mir sogar so vor, als vernehme ich deine Stimme, Schwester Fidelma.«
»Das stimmt. Der Wagen stand auf dem Hof des Gasthauses am Brunnen von Ara, dort brachtet ihr die Nacht bis zum Morgengrauen zu. Dann fuhr Samra-dan mit seinen Wagen hierher. In jener Nacht muß ich dir zum Greifen nahe gewesen sein.«
Bruder Bardan sah sie forschend an.
»Was ist geschehen?« fragte er. »Wie habt ihr mich gefunden?«