»Ich weiß all das zu schätzen, was Ihr für mich getan habt, Kapitän«, sagte Carrion mit ruhiger und regloser Stimme.
»Aber ich sollte, wie ich finde, darauf hinweisen, daß die Aufnahme eines berüchtigten Verräters wie mich in Eure Besatzung wahrscheinlich nicht das Klügste war, was Ihr tun konntet. Es wird Euren Karriereaussichten nicht viel helfen, und es hat womöglich Eurem Ansehen und Eurer Autorität bei der Besatzung geschadet.«
»Ich habe keine Karriereaussichten«, hielt ihm Schwejksam entgegen. »Dafür habe ich schon gesorgt. Und die Besatzung vertraut mir und meinem Urteilsvermögen. Sie wird lernen, Euch zu akzeptieren.«
»Ich kann Investigator Frost nicht ersetzen, Kapitän.«
»Niemand könnte das. Ich durfte den Investigator für diesen Einsatz selbst auswählen, und ich wollte Euch. Jemanden, der die Perspektive von Fremdwesen versteht und dem möglicherweise andere Möglichkeiten einfallen, als sie einfach wegzupusten. Falls die Neugeschaffenen ihrer Reputation gerecht werden, dann wird sich eine direkte Konfrontation als unbrauchbare Strategie erweisen. Ich brauche jemanden, der… flexibel ist.«
»Man hat mir schon manche Bezeichnung verliehen, aber ich denke, diese ist neu. Wie könnt Ihr sicher sein, daß ich die Partei der Menschheit ergreife?«
» Shub hat die Metallwälder zerstört. Hat Euch damit alles genommen, was Euer war. Das macht die abtrünnigen KIs jetzt auch zu Euren Feinden. Und die Partei der Menschheit zu ergreifen, das ist Eure einzige Chance auf Vergeltung.«
»Wie gut Ihr mich versteht, Kapitän! Ihr habt vollkommen recht. Rache ist ein kalter Trost, aber manchmal bleibt uns nichts anderes, woran wir uns noch klammern können.«
»Tut einfach Eure Pflicht, Carrion. Mehr kann niemand von uns verlangen.«
»Pflicht. Ehre. Vergeltung. Diese Dinge tauchen immer wieder auf und erheben Anspruch auf uns. Und ich habe stets getan, was ich tun mußte, weil es nicht meinem Wesen entspricht, mich abseits zu halten. Ich werde Euer Investigator sein, Kapitän. Versprecht mir nur, mich ziehen zu lassen, sobald ich nicht mehr gebraucht werde.«
»Natürlich, Sean. Das verstehe ich.«
»Nein, das tut Ihr nicht, Kapitän. Ihr habt es noch nie.«
Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter und blickten geradeaus. Es war ihnen noch nie leicht gefallen, über die wirklich bedeutsamen Dinge zu sprechen.
»Habt Ihr noch Gelegenheit gefunden, mit Diana zu reden, bevor wir aufbrachen?« erkundigte sich Carrion.
»Nein. Ich habe eine Nachricht im Esper-Gildenhaus hinterlassen, wo sie sich aufhielt, aber sie hat sich nicht zurückgemeldet. Vielleicht ist es so am besten. Ihr habt Diana ja im Parlament erlebt. Sie sagte, sie würde mich hassen. Mit gutem Grund, um die Wahrheit zu sagen. Ich war nicht zur Stelle, um sie zu retten, als sie mich brauchte. Nicht gerade ein Thema, das man mit einem zehnminütigen Schwätzchen aus der Welt schaffen könnte, wenn unser geschäftiges Leben gerade mal Zeit bietet. Vielleicht können wir nach diesem Einsatz…«
»Als ich ihr auf Unseeli zum ersten Mal begegnete, war sie ein so zerbrechliches junges Ding«, erinnerte sich Carrion. »So voller Leben, Glück und Staunen. Ich habe gesehen, wie so vieles davon zerstört wurde durch das, was sie erlebte. Und doch fand sie am Ende die Kraft, in den Gesang der Ashrai einzustimmen und sich so frei emporzuschwingen, wie diese Wesen es tun. Nichts von dieser Person habe ich in der Frau wiederentdeckt, der ich im Parlament begegnete. Ich habe von manchen Dingen gehört, die sie als Johana Wahn vollbrachte.
Schrecklichen Dingen. Wie hat sie sich nur zu dem entwickelt – wenn man bedenkt, was sie vorher war?«
»Wie haben wir es getan?« fragte Schwejksam.
»Guter Punkt, Kapitän. Guter Punkt.«
Endlich erreichten sie die alte Kabine von Investigator Frost.
Schwejksam zögerte für einen Moment vor der geschlossenen Tür. Seit er kurz nach ihrem Tod ihre Habseligkeiten sortiert hatte, ehe der Reinigungstrupp kam, war er nicht mehr hiergewesen. Viel war nicht zu sortieren gewesen. Wie alle Investigatoren hatte Frost keinen großen Wert auf Andenken oder eine persönliche Atmosphäre gelegt. Ein paar Bücher, alle mit strikt militärischer Thematik. Keine Fotos, keine Briefe, keine Erinnerungen. Nur eine kleine Disc-Sammlung mit ihrer Lieb-lingsmusik. Schwejksam hatte gar nicht gewußt, daß sie Musik mochte. Es erschien ihm als ein so… friedliches Interesse, für Frosts Verhältnisse. Er hatte die Discs mitgenommen, um sie sich später mal anzuhören, wenn er Zeit dafür fand.
Seitdem war niemand mehr hiergewesen. Die Kabine war versiegelt und erwartete den neuen Investigator. Schwejksam streckte die Hand aus, um den Kode einzutippen, aber Carrion packte seinen Arm. Schwejksam sah ihn an, eine Braue hochgezogen. Carrion starrte die geschlossene Tür an und runzelte leicht die Stirn.
»Noch nicht, Kapitän«, sagte er leise. »Etwas ist da drin. Jemand oder etwas sehr Ungewöhnliches. Und sehr Mächtiges.«
»Das ist unmöglich«, erklärte Schwejksam. »Die Tür ist noch verschlossen, und ich kenne als einziger den Sicherheitskode.«
»Nichtsdestoweniger«, konterte Carrion, »ist der Raum schon besetzt.«
Schwejksam zog den Disruptor. »Haltet Euch bereit. Und gebt acht! Jemand, der mächtig genug ist, um diese Art Schloß zu überwinden, muß sehr gefährlich sein.«
»Das stimmt«, sagte Carrion. »Das bin ich aber auch.«
Schwejksam tippte den Sicherheitskode ein, beförderte die Tür mit einem Tritt auf und trat rasch in die Kabine, Carrion an der Seite. Die Lichter brannten bereits. Eine dunkle Gestalt saß in Frosts altem Sessel und wandte ihnen den Rücken zu. Sie war kaum mehr als ein Umriß, aber etwas an Gestalt und Haltung kam Schwejksam vertraut vor. Er taumelte einen Schritt vor, und eine verrückte, unmögliche Hoffnung brach plötzlich aus seinem Herzen hervor.
»Frost…?«
»Nein«, sagte die Gestalt und drehte den Sessel, um sich ihm zuzuwenden. »Ich bin es nur, Vater.«
Die Hoffnung in Schwejksams Herz fiel in sich zusammen und erstarb, wurde aber sofort von einer Wärme anderer Art ersetzt. Er steckte den Disruptor ins Halfter und lächelte seine Tochter an. »Hallo, Diana. Wie zum Teufel bist du hier hereingekommen? Ich wußte nicht mal, daß du an Bord bist.«
»Niemand weiß es«, sagte Diana Vertue. »Belassen wir es auch dabei. Niemand darf erfahren, daß ich je hier war. Ich habe inzwischen Feinde, die mächtiger und gefährlicher sind, als ich je erwartet hätte.«
»O verdammt!« sagte Schwejksam. »Wen hast du jetzt wieder umgebracht?«
»Nichts dieser Art«, antwortete Diana. »Mit sowas würde ich schon fertig.«
»Jetzt mal langsam«, verlangte Schwejksam. »Wie bist du an Bord gekommen? Welche Ausrede du auch benutzt hast, der Sicherheitsdienst hätte mich benachrichtigen müssen.«
Diana lächelte kurz. »Ein Mädchen braucht ein paar Geheimnisse, Vater. Sagen wir einfach, daß mich niemand mehr sieht, wenn ich nicht gesehen werden möchte. Nicht einmal dein Schiffs-Esper oder die Sicherheitsanlagen. Setzt euch jetzt, ihr beide. Ich hasse es, wenn jemand so über mir aufragt.«
Schwejksam und Carrion sahen sich an, zuckten gleichzeitig die Achseln und sahen sich nach Sitzgelegenheiten um. Nur eine war noch frei, so daß Schwejksam dort Platz nahm. Er war schließlich Kapitän. Carrion setzte sich aufs Bett. Beide blickten Diana erwartungsvoll an.
»Ich arbeite an einem neuen Projekt«, berichtete sie vorsichtig. »Es besteht darin, der tatsächlichen Natur der Mater Mundi nachzugehen. Und ich habe alle möglichen interessanten Dinge ausgegraben. Das eine, dessen ich mir sicher bin, lautet: Sie ist nicht das, wofür alle Welt sie hält. Sie ist auch ein bißchen sauer auf mich, weil ich meine Nase in Sachen stecke, die mich ihrer Meinung nach nichts angehen. Tatsächlich hat sie mich sogar persönlich gewarnt. Ich denke, sie hätte mich umgebracht, wäre sie dazu in der Lage gewesen.«