Aufbrausender Gesang antwortete ihr, eine Musik, so komplex und gefühlsbesetzt, daß sie fast unerträglich war, gesungen von Engeln mit hakenbewehrten Flügeln und Heiligenscheinen aus Fliegen. Und dann waren die Ashrai verschwunden und die Kabine wieder nur eine Kabine. Carrion rutschte an der Wand herunter und machte es sich erneut auf dem Bett bequem. Die Lanze flog ihm in die Hand. Schwejksam stellte fest, daß er seine Bewegungsfähigkeit zurück hatte. Johana Wahn erlosch wie eine Kerze und war einfach wieder Diana Vertue. Sie streckte sich langsam und setzte sich. Eine Atmosphäre der Ruhe, entwichenen Drucks, eines vorbeigezogenen Sturms herrschte in der Kabine.
»Was zum Teufel sollte das denn?« wollte Schwejksam wissen.
»Johana ist schon ein Miststück, aber sie erreicht wenigstens etwas«, erklärte Diana, die sich von seinem Ton völlig ungerührt zeigte. »Und ich hatte so ein Gefühl, als würden die Ashrai nur auf Dramatisches reagieren. Ich mußte einfach ihre Antwort hören.«
»Und jetzt kennt Ihr sie«, sagte Carrion. »Ich hoffe, Ihr findet, daß sie es wert war, den Zorn der Ashrai zu wecken.«
»Jemand möge mir das bitte übersetzen!« schnauzte Schwejksam. »Ich habe nur Musik gehört, bei der mir beinahe die Trommelfelle rausflogen. Was haben sie gesagt?«
»Sie wissen von der Mater Mundi«, antwortete Diana. »Und sie haben Angst. Die Existenz der Weltenmutter… beunruhigt sie. Sie haben eingewilligt, meinem Ruf Folge zu leisten, aber ich bin mir nicht mehr sicher, wie hilfreich sie sein werden.
Ohne ihren Wald und ohne ihre Welt sind sie so gemindert.«
»Unterschätzt sie nicht«, mahnte Carrion. »Der Tod war nur eine weitere Reise für sie, der Übergang in ein anderes Stadium. Sie sind nach wie vor sehr mächtig.«
»Aber sie sind schon lange tot«, gab Diana zu bedenken.
»Nur Ihr haltet sie noch mit der Welt der Lebenden verbunden, Carrion.«
»Ja, nun«, brummte Schwejksam. »Bei der Vorstellung, es könnte Gespenster geben, fühle ich mich noch immer nicht übertrieben wohl. Die Toten sollten tot bleiben.«
»Und ich fühle mich bei der Vorstellung unwohl, die Mater Mundi könnte so mächtig sein, daß sie sogar den Toten Angst macht«, sagte Diana. »Es hat den Anschein, als brauchte ich noch mehr Bundesgenossen. Was mich wieder zu dir bringt, Vater.«
»Was meinst du damit?« fragte Schwejksam, »Wie du bereits so freundlich festgestellt hast, gehören die wenigen Kräfte, über die ich verfüge, nicht einmal in die gleiche Kategorie wie die der Weltenmutter. Ich bin für dich da, wenn ich kann, aber ich bin nur ein Kapitän der Imperialen Flotte unter vielen, und ich muß dorthingehen, wo es mir befohlen wird. Im Moment heißt dieses Ziel die Dunkelwüste. Keine Ahnung, wann ich zurückkehre. Oder ob ich überhaupt zurückkehre.«
»Du wirst es«, behauptete Diana. »Du bist ein Überlebenskünstler. Und du hast sehr wohl Kräfte, auch wenn du beschlossen hast, sie weder einzusetzen noch zu entwickeln. Es besteht kein Grund, warum du mit der Zeit nicht genauso mächtig werden solltest wie alle Überlebenden des Labyrinths.
Ich wollte dich nicht mit meinen Problemen belästigen, aber ich habe vielleicht keine andere Wahl. Wie sehr liebst du mich, Vater? Genug, um dich über die Grenzen der menschlichen Natur hinaus zu entwickeln, damit du mich beschützen kannst?«
»Ich habe dich schon einmal im Stich gelassen«, sagte er ruhig. »Das wird sich nicht wiederholen. Aber ich habe…«
»Das Labyrinth des Wahnsinns hat dich verändert«, sagte Diana. »Es hat dich umgebaut. Fürchte dein eigenes Potential nicht! Erzähle mir vom Labyrinth. Davon, was es mit dir angestellt hat.«
»Ich weiß es doch nicht!« antwortete Schwejksam beinahe zornig. »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nicht, was aus mir wird. Mir ist nur klar: Was immer das Labyrinth an Umwandlung ausgelöst hat, ist noch nicht abgeschlossen.
Manchmal habe ich Gesichte im Traum. Ich höre Stimmen, die mir etwas erzählen. Und einmal hat mich Frost besucht. Sie hat versucht, mir eine Warnung zu übermitteln, die sich auf das Labyrinth bezog, auf das, was es mit mir anstellte, aber ich konnte sie nicht verstehen.«
»Erzähle mir vom Labyrinth«, beharrte Diana. »Wie war es darin? Wie hat es sich angefühlt?«
»Es war… fremdartig«, antwortete Schwejksam zögernd.
»Nie zuvor war mir so etwas begegnet. Und ich denke, daß es vielleicht lebendig war, auf eine Art und Weise, die wir nie begreifen könnten. Sich im Labyrinth aufzuhalten, das war, als wandelte man durch Visionen. Wie in einem jener Träume, in denen man die Antwort auf alles weiß, bis man erwacht und alles verschwunden ist. Aber diese Antworten waren real. Sie waren zuviel für manche, die zusammen mit mir das Labyrinth betreten hatten. Sie starben eines entsetzlichen Todes. Ihr Denken war nicht… flexibel genug für die Veränderungen, die das Labyrinth an ihnen vornehmen wollte.«
»Warum hast du das Labyrinth wieder verlassen?« fragte Diana. »Warum hast du es nicht ganz durchschritten wie Owen und seine Begleiter?«
»Ich hatte Angst«, gestand Schwejksam. »Ich war nicht würdig. Und das Labyrinth stand im Begriff, Frost zu töten. Ich packte sie und sah zu, daß wir beide wieder hinauskamen. Erst viel später begannen sich die Veränderungen in uns zu manifestieren.«
»Wofür hältst du das Labyrinth?« wollte Diana wissen.
»Welchem Zweck hat es gedient?«
Schwejksam schnaubte hämisch. »Qualifiziertere Leute haben sich schon mit einer Antwort darauf versucht und sind gescheitert. Frage doch eine Ameise, was sie von der Statue hält, über die sie krabbelt. Niemand hat je etwas gefunden, was dem Labyrinth ähnlich gewesen wäre, weder vorher noch nachher, auf keinem der Tausende von Planeten, die wir besucht oder kolonisiert haben. Es diente einem fremdartigen Zweck, der vielleicht völlig über die Möglichkeiten menschlichen Verstehens hinausging.«
»Aber du hast seine Berührung gespürt«, beharrte Diana.
»Was, denkst du, war es?«
»Vielleicht… eine Unterrichtsmaschine«, sagte Schwejksam leise. »Für die, die fähig waren, daraus zu lernen. Aber nichts davon hat noch eine Bedeutung. Ich habe das Labyrinth vernichtet, es mit Disruptorkanonen auseinandergepustet, bis nichts mehr davon blieb. Es war das einzige seiner Art, womöglich einzigartig im Universum, und ich habe es zerstört.
Und stünde ich noch einmal vor der gleichen Frage, würde ich ohne zu zögern den gleichen verdammten Befehl erteilen!«
»Ihr verändert Euch nie, Kapitän«, fand Carrion.
»Hattest du seit der Rebellion Kontakt zu irgendwelchen anderen Überlebenden des Labyrinths?« erkundigte sich Diana.
»Hast du Gedanken mit ihnen ausgetauscht?«
»Nein«, antwortete Schwejksam barsch. »Es lag noch nicht besonders lange zurück, daß wir uns gegenseitig zu töten versuchten. Ein Teil von mir möchte sie immer noch für das umbringen, was sie getan haben. Außerdem… denke ich nicht, daß wir viel gemeinsam haben, worüber wir uns unterhalten könnten. Sie sind… anders als ich. Als alle. Sie sind gruselig.
Beinahe nichtmenschlich. Manchmal fast fremdartig. Falls sie und ich auf einem gemeinsamen Weg wandeln sollten, dann sind sie darauf viel weiter als ich. Von dort, wo ich mich befinde, sind sie fast schon außer Sichtweite. Die armen Bastarde.
Alle ihre neuen Kräfte und Fähigkeiten scheinen sie nicht glücklicher gemacht zu haben. Sie entwickeln sich zu irgend etwas. Zu etwas, was nicht mehr menschlich ist.«
»Zu etwas wie mich vielleicht?« fragte Carrion.
»Nein, Sean. Ihr seid einfach nur unheimlich. Ich kann Euch und das, was Euch bewegt, immer noch verstehen. Ich habe allerdings keinen Schimmer, was heute in den Köpfen von Owen und seinen Freunden vorgeht. Ich denke, sie entfernen sich von rein menschlichen Belangen. Das macht sie gefährlich – vielleicht nicht nur für das Imperium, sondern die ganze Menschheit. Das ist einer der Gründe, warum die Labyrinthleute über meinen Auftrag nicht informiert wurden. Das Parlament wollte nicht darauf vertrauen, daß sie sich nicht einmischten, daß sie nicht versuchten, uns aufzuhalten.«