»Was erwartest du, in der Dunkelwüste zu finden?« fragte Diana.
»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Aber es könnte doch möglich sein, etwas zu finden, was stark genug ist, die Labyrinthleute zu stoppen oder zu beherrschen, falls sie üble Züge entwickeln.«
»Und Ihr haltet das für nötig?« fragte Carrion. »Findet Ihr, daß es erforderlich ist, sie zu vernichten? Wie Ihr die Ashrai und das Labyrinth des Wahnsinns vernichtet habt?«
»Gutes Beispiel«, antwortete Schwejksam. »Ich fühle mich dem Imperium und der Menschheit verpflichtet. Dazu, sie vor allen Gefahren zu beschützen. Seht mal, die Labyrinthleute sind niemandem verantwortlich außer sich selbst. Niemand ist da, der stark genug wäre, nein zu sagen, wenn sie ein Ja vorgeben. Und sie werden laufend stärker. Was, wenn einer oder mehrere von ihnen zu dem Schluß gelangten, das Parlament führte das Imperium in eine Richtung, die sie nicht billigen?
Was, wenn sie beschlossen, normalen Menschen dürfte nicht erlaubt sein, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen?
Was, wenn sie die Macht übernähmen und über uns regierten?
Natürlich zu unserem eigenen Besten! Wer könnte sie aufhalten?«
»Womöglich wirst du auch nur paranoid«, meinte Diana. »Es sind doch nur vier.«
»Wie viele Götter sind nötig, um über die Menschheit zu herrschen?« hielt ihr Schwejksam entgegen. »Und die Tatsache allein, daß ich paranoid werde, heißt noch nicht, daß sie nicht tatsächlich planen, mich zu attackieren. Von allen Leuten solltest du das einsehen können.«
»Guter Punkt«, sagte Diana und lächelte zum ersten Mal. Sie stand auf und nickte ihrem Vater und Carrion kurz zu. »Es wird Zeit zu gehen. Ich denke nicht, daß ich hier mehr erfahre. Wir unterhalten uns wieder, wenn du zurückgekehrt bist. Mach dir nicht die Mühe, nach mir zu suchen.«
Und sie verschwand einfach so. Einen Augenblick noch da, im nächsten weg. Schwejksam und Carrion blickten einander an.
»Na ja«, sagte Carrion schließlich. »Sie ist eindeutig Eure Tochter, Kapitän.«
»Und sie wußte schon immer, wie man einen wirkungsvollen Abgang hinkriegt«, sagte Schwejksam. Er schüttelte den Kopf.
»Die Zeit wird knapp, und ich bin immer noch nicht damit fertig, Euch ins Bild zu setzen. Was wollte ich… Ah ja. Die Insektenschiffe. Seid Ihr die Dateien bereits durchgegangen, die ich Euch zukommen ließ?«
»Natürlich«, antwortete Carrion. »Faszinierendes Material.
Ihr seid Euch doch im klaren, daß die Insekten künstlich geschaffen sein müssen, nicht wahr?«
»Das hat Frost auch gesagt – daß sie gentechnisch erzeugt worden sein müssen, weil Insekten in der Natur nicht so groß werden. Was andeutet, daß noch jemand im Spiel sein muß, den wir bislang nicht kennen – der Erzeuger der Insekten.«
»Müssen wir wirklich davon ausgehen, ihn nicht zu kennen?« fragte Carrion. »Sicherlich haben wir längst genug Verdächtige – die Hadenmänner, Shub, vielleicht gar abtrünnige menschliche Wissenschaftler, bezahlt von Familien, die nach Macht hungern. Und immer bleiben noch die Neugeschaffenen.
Als was immer sie sich letztlich entpuppen werden.«
»Ich habe mich in diesem Sinn auch gegenüber Admiral Beckett geäußert«, sagte Schwejksam langsam. »Ich wäre überhaupt nicht überrascht, wenn sich herausstellte, daß die Insekten aus der Dunkelwüste stammen. Ihre Angriffe haben sich immer auf den Abgrund konzentriert, und wo sonst sollten sie anschließend untertauchen? Und dann… sind da noch die Stimmen zu erwähnen.« Schwejksam musterte Carrion unverwandt. »Die entsprechenden Dateien, die ich Euch gegeben habe, sind streng vertraulich. Ihr dürft über ihre Inhalte mit niemandem sprechen, ohne vorher meine Genehmigung einzuholen. Meiner Besatzung ist es auch so schon gruselig genug, erneut in die Dunkelwüste fliegen zu müssen. Also… was fangt Ihr mit den Stimmen an? Irgendwelche Ideen?«
»Es könnte ein Esper-Phänomen sein«, sagte Carrion. »Oder die Stimmen der Toten. Aber als wahrscheinlichste Erklärung muß gelten, daß wir es mit einem psychologischen Trick von Shub zu tun haben, um Euch für die Ankunft der Verfechter weichzuklopfen. Ein seit langem verschollenes Schiff, mit Toten bemannt, seine Wiederkunft angekündigt von den warnenden Stimmen der Geister – genau die Art Masche, die die abtrünnigen KIs austüfteln würden, um sich in Eure Köpfe einzumischen.«
»Natürlich ist das die wahrscheinlichste Erklärung«, sagte Schwejksam. »Aber Ihr habt diese Stimmen nicht selbst gehört, Sean. Sie ließen sich einfach nicht aufzeichnen. Sie verklangen schlicht wieder. Was Ihr in den Dateien zu hören bekommen habt, waren Simulationen, beruhend auf dem, woran wir uns noch erinnert haben. In Wirklichkeit klangen sie… entsetzlich.
Zermürbend. Es hatte tatsächlich den Anschein, als wollten sie uns vor Gefahr warnen. Nicht nur vor der Verfechter, sondern vor der Dunkelwüste selbst. Und da sind wir, im Begriff, in diese Dunkelheit zurückzukehren.«
»Könnte es sich um eine Warnung der Neugeschaffenen handeln?« fragte Carrion. »Sich aus ihrem Territorium herauszuhalten?«
»Eure Vermutung ist so gut wie meine. Ich schätze, wie immer werden wir es auf die harte Tour herausfinden müssen.
Und natürlich müssen wir es tun. Dieses Schiff und seine Besatzung haben mehr Erfahrung mit der Dunkelwüste als drei beliebige andere Schiffe gemeinsam. Und schließlich sind wir durchaus entbehrlich.«
»Nichts verändert sich«, fand Carrion, und sie beide brachten eine Art Lächeln zustande.
»Richtig«, sagte Schwejksam. »Was ist es für ein Gefühl, wieder Investigator zu sein?«
»Ich trage diesen Titel nur der Form halber. Ich ziehe jedoch nicht die offizielle Uniform an. Ich bin ihrer nicht mehr würdig. Oder sie meiner nicht. Darüber bin ich mir noch nicht klargeworden.«
»Ihr genießt eine umfassende Amnestie. Ihr werdet nicht mehr gesucht«, stellte Schwejksam fest. »Würdet Ihr nicht gern wieder heimkehren, Sean?«
»Ich hatte ein Zuhause«, sagte Carrion. »Ich war dort glücklich. Und dann habt Ihr und Shub es zerstört.«
Evangeline Shreck kehrte schließlich nach Hause zurück, zum Turm der Shrecks, stand lange in seinem kalten, dunklen Schatten und bemühte sich, ihr Zittern zu beherrschen. Von außen wirkte der Turm wie irgendein beliebiges Gebäude aus Stahl und Glas und den Familienfarben, die es als einen der legendären Pastelltürme kennzeichneten, Heimstatt eines Clans. Für Evangeline war es ein Hexenhaus, eine Dämonenhöhle, jener dunkle Ort, der in unseren schlimmsten Alpträumen nach uns ruft. In seiner schrecklichen Umarmung hatte sie ein schlimmes Leben voller Schmerz und Grauen und Pein geführt, bis schließlich der Prinz auf seinem weißen Roß erschien, ihr seine Liebe schenkte und ihr den Mut gab, sich von dem Unmenschen zu befreien, der sie in Ketten hielt.
Und jetzt war sie zurückgekehrt, obwohl sie sich geschworen hatte, es nie zu tun. Wieder daheim, um ihre allerbeste Freundin aus der Hölle zu befreien, die sie selbst so gut kannte.
Ihr Liebster wußte nicht, daß sie hier war. Sie hatte Finlay Feldglöck in dem Glauben belassen, daß sie auf einen weiteren Einsatz für die Klon-Bewegung ging. Hätte er gewußt, daß sie zum Turm der Shrecks zurückkehrte, dann würde er versucht haben, sie daran zu hindern, sei es auch nur mit Worten. Und das konnte sie nicht zulassen. Sie mußte diese Aufgabe selbst leisten. So weh es auch tat. Sie war gekommen, um sich dem Monster zu stellen, ihrem Vater Gregor Shreck. Er glaubte, alle Trümpfe in der Hand zu halten, alle Vorteile auf seiner Seite zu haben, aber Evangeline hielt selbst ein paar Überraschungen bereit, nur für ihn. Nur für den lieben Vater.