Den Mann, der die eigene Tochter ermordet hatte, die ursprüngliche Evangeline, und sie dann insgeheim klonen ließ – die heutige Evangeline. Den Mann, der sowohl das Original wie auch den Klon nicht als Vater liebte, sondern als Mann.
Der seine Stellung und die Liebe seiner Tochter mißbrauchte.
Der seine Evangelines mit ins Bett nahm und ihnen mehr über Schmerz als über Lust beibrachte. Der Teufel in seiner Hölle.
Gregor Shreck.
Der Haß pulsierte in ihr wie der Schlag des Herzens, wogte durch die Adern, vertrieb die Angst. Sie holte tief Luft, um die Fassung wiederzufinden, und ging gelassen auf die gepanzerten Wachtposten zu, die den Haupteingang zum Shreck-Turm bewachten. In der umfangreichen schwarzen Körperrüstung, die Gesichter hinter stilisierten Sensormasken versteckt, sahen sie Käfern ähnlicher als Menschen. Es waren insgesamt sechs, aber sie jagten Evangeline keine Furcht ein. Sie blieb in vorsichtiger Distanz stehen und bedachte sie mit hochmütigem Blick.
»Ich bin Evangeline Shreck und möchte meinen Vater Gregor besuchen. Informiert ihn darüber, daß ich gekommen bin.«
Die Posten sahen für einen Moment sie an, dann einander.
Sie vermutete, daß sie sich kurz, aber intensiv über ihre Komm-Implantate unterhielten, ehe sie es wagten, ihren Meister zu stören, den Shreck. Es dauerte nicht lange, bis sie zurücktraten und Evangeline mit Gesten bedeuteten, sie möge den Turm durch den Haupteingang betreten. Sie schritt erhobenen Hauptes vor, und die einzelne schwere Tür öffnete sich lautlos vor ihr. Die Eingangshalle war seit ihrem letzten Besuch neu dekoriert worden. Jede Behaglichkeit und alle attraktiven Einzelheiten hatte man herausgerissen, so daß nur eine kahle Halle mit Betonboden und leeren Wänden geblieben war.
Evangeline hörte Schritte hinter sich und drehte sich langsam zu dem einzelnen gepanzerten Posten um, der nach ihr das Foyer betreten hatte. Die Tür ging hinter ihm zu. Er redete sie an, ohne die Maske abzusetzen, und alle Spuren von Menschlichkeit wurden aus der Stimme herausgefiltert.
»Der Lord Shreck erwartet Euch in seinem Privatquartier, Lady Evangeline. Ich soll Euch dorthin geleiten. Nach einer umfassenden Durchsuchung im Interesse der Sicherheit.«
»Lord Shreck?« fragte Evangeline und zog eine Braue hoch.
»Es gibt keine Lords mehr. Weiß er das noch nicht?«
»Der Shreck… wahrt in allen Dingen seinen eigenen Stil.
Zieht Eure Kleider aus. Sämtliche. Legt alle Waffen und sonstigen Geräte, die Ihr vielleicht bei Euch tragt, auf die Seite.«
Evangeline nickte steif. Sie hatte damit gerechnet. Gregor glaubte heutzutage, daß ihn alle umbringen wollten. Meistens hatte er recht damit. Sie zog die Kleider mit so wenig Aufhebens aus, wie es nur ging, und konzentrierte sich auf den Grund ihres Hierseins. Es half, daß der Wachmann in Rüstung und Maske so nichtmenschlich und anonym wirkte. Sie fragte sich, ob Gregor wohl über die Sensoren der Maske zusah. Wahrscheinlich. Endlich war sie nackt, und die Kleider lagen in einem ordentlichen Stapel neben ihr. Sie fixierte die Maske mit festem Blick.
»Das war alles. Keine Kleider mehr, keine Waffen. Aber falls Ihr mich auch nur mit den Fingerspitzen anfassen solltet, sage ich es meinem Vater. Soll er wirklich erfahren, daß Ihr etwas berührt habt, was seiner Überzeugung nach ausschließlich ihm gehört?«
Der Wachmann zögerte, nickte dann ruckhaft und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß sie sich wieder anziehen sollte.
Sie tat wie geheißen und ließ sich dabei weder von dem Wachmann noch den eigenen Nerven hetzen. Als sie bereit war, führte der Wachmann sie zu einem Fahrstuhl an der Rückwand des Foyers, und sie stiegen beide ein. Der Mann gab mit seiner nichtmenschlichen Stimme das Penthouse als Ziel an, und die Türen schlossen sich lautlos. Er wich einen Schritt zurück, um Evangeline mit der Schußwaffe in Schach halten zu können. Sie ignorierte ihn und starrte auf die Leuchtzahlen über der Tür, die sich fortlaufend änderten. Bislang lief alles wie geplant. Trotz seines Verfolgungswahns brachte es Gregor nicht fertig, sie als ernste Gefahr einzustufen. Sie war seine kleine Evie, seine Spielsache.
Alte Erinnerungen durchströmten sie wie ein eisiger Fluß.
Hier war sie im voll ausgewachsenen Zustand geboren worden, der Klon einer Frau, von deren Tod die Außenwelt nichts wissen konnte. Man hätte ihr beigebracht, sich als die vollkommene Kopie der ursprünglichen Evangeline zu geben, um die scheußliche Untat Gregors vor der Gesellschaft zu verbergen.
Und damit er sein Vergnügen weiterhin auf die Art haben konnte, an die er sich gewöhnt hatte.
Ein anderes Leben tat sich erst vor ihr auf, als sie Finlay kennenlernte. Sie begegneten sich bei Hofe auf einem Maskenball, und es war Liebe auf den ersten Blick. Sie unterhielten sich und lachten; ihre Augen funkelten durch die Masken, und beide erwärmten sich zum ersten Mal im Leben für einen anderen.
Und dann fielen um Mitternacht die Masken, und sie entdeckten sich gegenseitig als eine Shreck und einen Feldglöck, Angehörige zweier Familien, die seit Generationen gegeneinander Krieg führten. Und sie beide waren der jeweilige Erbe. Ihre Liebe wäre ein Skandal gewesen, einfach inakzeptabel, und Evangeline wußte, daß Gregor sie eher umbringen als aufgeben würde. Und schlimmer noch, er brachte vielleicht Finlay um.
Also hielten sie ihre Liebe geheim, nahmen sich Gelegenheiten, die sich boten, bis sie irgendwann mal die Chance erhielten und zusammenkommen konnten.
Sie erzählte Finlay nie etwas von ihrem Verhältnis zu Gregor. Sie wußte, daß Finlay damit nicht fertig geworden wäre.
Zu wissen, wie sehr sie gelitten hatte. Er wäre in blutigem Zorn losgestürmt, um Gregor zu töten, und zur Hölle mit den Folgen. Gregors Leute hätten ihn womöglich umgebracht, oder er hätte nach dem Mord gehängt werden können. Egal was, sie brachte es nicht fertig, das zu riskieren. Und außerdem… hätten sich seine Gefühle ihr gegenüber vielleicht verändert. Also schwieg sie.
Der Fahrstuhl läutete höflich, als sie das oberste Stockwerk erreicht hatten. Es war wie eine auf den Kopf gestellte Hölle.
Man mußte bis ganz nach oben fahren, um den dunkelsten, übelsten Teil des Schlundes zu erreichen. Die Türen glitten auf, und der Wachmann eskortierte Evangeline durch einen kahlen Stahlkorridor. Ihre Schritte klangen laut auf dem Metallboden.
Gregor wollte schließlich wissen, wenn jemand kam. Weitere Wachtposten standen überall entlang des Flures in Habachtstellung, die Waffen einsatzbereit. Keine Käfer mehr, fand Evangeline, sondern Dämonen in einem Korridor der Hölle. Sie zwang sich, stur geradeaus zu blicken, und duldete nicht, daß ihre Lippen bebten. Und endlich erreichten sie und ihre Eskorte die extradicke Stahltür, die den einzigen Zugang zum Privatquartier ihres Vaters bildete. Es war eine ganz besondere Tür, so konstruiert, daß sie einer Bombe und einem Disruptorschuß gleichermaßen mühelos standhalten konnte. Evangeline stand steif davor, während der Wachmann bekanntgab, daß sie eingetroffen waren.
»Komm herein«, ertönte Gregors sanfte, ölige Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher, der den Eindruck erweckte, die Worte kämen gleichzeitig aus allen Richtungen. »Komm herein, kleine Evie, und geselle dich zu deinem nachsichtigen Vater. Wachmann sechs, bezieht vor der Tür Stellung. Wir wollen aus keinem Grund gestört werden.«
Die Tür schwang langsam auf, und Evangeline riß sich angestrengt zusammen, während sie ohne Eile die Höhle des Menschenfressers betrat. Es war wichtig, daß sie nicht so langsam ging, als wäre sie verängstigt oder widerwillig, und auch nicht so schnell, als würde sie springen, um einem Befehl Folge zu leisten. Anschein bedeutete jetzt alles, war alles, womit sie hantieren konnte. Die Tür schloß sich hinter ihr, als sie stehenblieb und sich umsah.