Sie zitterte am ganzen Leib, als die Reaktion einsetzte. Sie dachte an den Kampf mit den Wachleuten zurück und lächelte ungläubig. Die Untergrundbewegung hatte Evangeline ausgebildet, wie das allen Agenten zuteil wurde, aber sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, eine dieser Fähigkeiten im Ernstfall anzuwenden. Wahrscheinlich hatte ihre Zeit mit Finlay sie mehr beeinflußt, als sie gedacht hatte.
Finlay. Sie wollte jetzt zu ihm zurückkehren. Wie stolz er auf sie sein würde! Er würde sie in die Arme nehmen und festhalten, und der lange Alptraum ihres früheren Lebens war endlich vorüber. Sie hatte das Gefühl, daß sie etwas vergaß, etwas Wichtiges, aber sie scherte sich nicht darum. Sie war auf dem Weg nach Hause. Der Wind peitschte kalt über ihre nackte Haut, und sie kicherte plötzlich bei dem Gedanken, was für einen furchtbaren Anblick sie bieten mußte.
Aber das war egal. Alles war egal, außer, sicher zu Hause bei Finlay zu sein und bei ihrer Freundin Penny und ihrem Freund Wax. Vielleicht veranstalteten sie eine Party, wenn sie zurück war. Und dann schlief sie vielleicht eine Woche lang. Oder zwei.
Valentin Wolf, der wie immer nicht ganz bei Verstand war, lümmelte entspannt in seinem sehr bequemen Sessel auf der Brücke seines Schiffes, der Schlai. Es befand sich im Orbit über dem Planeten Loki, der sagenhaften Welt der Stürme. Valentin betrachtete den Bildschirm, der die sich unaufhörlich verändernde Atmosphäre des Planeten unter ihm darstellte, einer Welt, die zum Abgrund gehörte. Phantastische Muster, vielschichtig und faszinierend, offenbarten sich seinen geweiteten Pupillen, Muster, die sich unaufhörlich neu bildeten und unendlich reizvoll waren. Er betrachtete die Stürme jetzt seit geraumer Zeit, gefahrlos hinter der besten Tarnvorrichtung versteckt, die Shub liefern konnte, unsichtbar für alle dort unten. Valentin hatte nie viel davon gehalten, sein dunkles Licht unter den Scheffel zu stellen, aber jetzt, wo so viele Leute geschworen hatten, ihn auf Sicht zu erschießen, blieb ihm keine andere Wahl, als alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.
Er lächelte verträumt. Es war schließlich nicht seine Schuld, wenn die Leute keinen Scherz vertragen konnten.
Seit über einer Stunde bewegte er sich jetzt auf einer hohen Umlaufbahn und wartete geduldig auf den Ruf, der ihm versprochen worden war. Irgendwo unter all den Stürmen und dramatischen Wettersystemen, für die Loki berüchtigt war und deretwegen es als unangenehmster Planet im ganzen Imperium galt, versammelten sich Verräter am Imperium und wünschten, daß Valentin sich ihnen anschloß – in irgendeiner der robusten und permanent verrammelten Städte des Planeten. Natürlich betrachteten sie sich nicht selbst als Verräter. Das taten solche Leute nie. Statt dessen versteckten sie sich hinter Begriffen wie Patriotismus, Notwendigkeit, praktische Erwägung. Valentin hingegen hatte noch nie den Trost beschönigender Worte gebraucht. Er wußte, was er war, und tat sich viel darauf zugute.
Unter Valentins zur Zeit ruhiger Fassade kämpften etliche sehr starke Psychodrogen um die Vorherrschaft. Nach Jahrzehnten entschlossener Selbstversuche mit Drogen war Valentins System heute stark genug, um Dosierungen zu überstehen, die einen normalen Menschen umgebracht oder völlig in den Wahnsinn getrieben hätten. Und so war Valentin in jüngster Zeit dazu übergegangen, sich mehrere Substanzen gleichzeitig zu verabreichen, damit sie die Sache unter sich ausmachten. Es war eine Art russisches Roulette, und die Gefahr des plötzlichen Todes ergänzte das Erlebnis um einen dekadenten Beigeschmack, den Valentin absolut unwiderstehlich fand.
Alle Welt war ihm auf den Fersen. Alle wollten ihn umbringen. Und Valentin hätte gar nicht glücklicher sein können. Er hatte der Menschheit abgeschworen und sich mit Shub verbündet, und er gab einen Dreck darauf. Seit jeher bildete er sich etwas auf seine Fähigkeit ein, alle Aspekte einer Auseinandersetzung betrachten zu können, manchmal alle auf einmal, selbst wenn er mit keiner einzigen davon übereinstimmte. Auf nichts anderes kam es an als die Suche, die Suche nach dem absoluten Rausch. Und die Chance, über einfach alles hinwegzutrampeln und jedes Lebewesen zu zwingen, daß es sich ihm beugte. Er wünschte sich nichts weiter, als Gott zu sein. War das denn zuviel verlangt?
Sein Kontakt mit Shub, dem Planeten, den die abtrünnigen KIs gebaut hatten, war leichter verlaufen als erwartet. Eine ruhige, emotionslose Stimme hatte ihm als Gegenleistung für seinen Verrat technische Verbesserungen versprochen, die ihm Zugriff auf Sinneswahrnehmungen weit über die des bloßen Fleisches hinaus geben würden; auf diese Weise würde ihm, hieß es, schließlich ein direktes Verstehen der Wirklichkeit ermöglicht, ungefiltert durch menschliche Fehldeutungen. Die abtrünnigen KIs hatten ihm schon mal einen Vorgeschmack geboten, indem sie ihm die unmittelbare Steuerung der Maschinen ermöglichten, die Virimonde zerstört hatten. Sein Bewußtsein hatte sich mit dem metallischen Denken der Roboter und Kriegsmaschinen vermischt, während sie Männer und Frauen niederrissen, ihr verwundbares Fleisch mit Metallklauen aufrissen und ihre Leiber unter Metallrädern zermalmten. Es hatte ihn… freudig erregt. Aber sogar Valentin wußte, daß die erste Kostprobe nicht ohne Grund stets kostenlos verabreicht wird. Er hatte in seinem Leben viele Drogen konsumiert, aber nie einer erlaubt, ihn zu versklaven. Sein eiserner Wille war als einziges stärker als seine habgierige Körperchemie. Also blieb er auch angesichts der Verlockungen Shubs gelassen und fragte nach mehr Einzelheiten. Die Stimme ihrerseits fragte ihn, ob er gern mit jemandem sprechen wollte, der ihm auf seinem Weg vorausgegangen war.
Valentin zog eine Braue hoch. Seit jeher betrachtete er eigentlich sich selbst als Pionier an der vordersten Front der Selbstverwandlung. »Und wer mag das sein?«
»Was denkt Ihr?« fragte eine bekannte Frauenstimme. »Wer außer Löwenstein?«
»Eure Hoheit«, sagte Valentin höflich. »Wie erfreulich, wieder etwas von Euch zu vernehmen! Ich stand unter dem Eindruck, Ihr wäret dahingeschieden.«
»Nur mein Körper. Die KIs haben mein Bewußtsein gerettet und nach Shub geholt. Ich bin jetzt metallisch, hause in Maschinen.«
»Und wie fühlt sich das an, Eure Hoheit? Könnt Ihr es schildern?«
»Selbstverständlich. Ich bin groß, größer, als es noch möglich war, solange ich in der Umgrenzung des Fleisches gefangensaß. Meine Gedanken schweifen frei umher, gehen in jede Gestalt ein, die ich wähle. Und ich sehe so viel mehr als früher jemals! Das Universum ist nicht so, wie Ihr es seht, Valentin.
Es ist ein wunderbarer Ort, komplex und prachtvoll auf eine Art und Weise, die über menschliches Verstehen hinausgeht.
Es ist voller Bereiche und Dimensionen, Richtungen und Möglichkeiten fast ohne Zahl. Tretet nur ein, Valentin; die Natur des Nichtmenschlichen ist wundervoll.«
»Es klingt ganz gewiß danach«, sagte Valentin vorsichtig.
»Aber wie ist es… Wie soll ich es nur ausdrücken… Wie steht es um die mehr fleischlichen Freuden und Gelüste? Wie fühlt es sich an, wenn man sie hinter sich gelassen hat?«
»Als ich ein Kind war, spielte ich mit Kinderspielzeug. Ich bin darüber hinausgewachsen, Valentin. Das Vergnügen hat seine Wurzel im Bewußtsein, nicht im Körper. Ich habe nichts verloren und so viel gewonnen! Wie Ihr es könntet. Ihr braucht nur der Vergangenheit Lebewohl zu sagen und Euch ganz der Zukunft zu verschreiben. Die Zukunft ist metallisch. Die Menschheit war nie mehr als eine Sprosse der Leiter, die nach Shub führt, und es ist keine große Tragödie, wenn sie durch etwas Größeres ersetzt wird. Fleisch verfällt und stirbt. Wir sind ewig.«