Julian erschrak über den Unterschied. Er war schmerzhaft dünn geworden, das Gesicht abgezehrt und hohl, mit dunklen Schatten unter den Augen. Er wirkte zwanzig Jahre älter. Die Manager sagten, es täte ihnen sehr leid, daß sie ihn ziehen lassen müßten, aber mit Makeup könnte man nur so und so viel erreichen und nicht mehr. Sie versicherten ihm, sie würden ihn nur zu gern zurücknehmen, wenn es ihm wieder besser ginge, aber alle im Zimmer wußten, daß das Unsinn war. Es würde ihm nicht mehr besser gehen.
Diese weißbekittelten Bastarde in den Verhörzellen hatten ihn schließlich doch umgebracht. Der Tod brauchte nur eine Zeitlang, um ihn einzuholen.
Und so war er nach Hause gegangen. Zu Hause, das war das alte Familienhaus der Skyes. Kein Turm. Nicht mal in derselben Gegend gelegen. Die Skyes waren nie mehr als eine sehr unbedeutende Familie gewesen. Und bald würden sie überhaupt keine Familie mehr sein. Beide Eltern Julians waren tot, ebenso alle Großeltern. Krieg und Politik und Duelle. Seine Onkel und Tanten, die ein sinkendes Schiff als solches erkannten, wenn sie darauf fuhren, hatten in mächtigere Familien eingeheiratet und deren Namen angenommen. Noch gab es ein paar weniger bedeutsame Kusinen und Vettern unterschiedlicher Grade, aber für alle praktischen Zwecke waren Auric und Julian die letzte Generation der Familie gewesen, und sie hatten nie Kinder gehabt.
Jetzt war Julian Skye der letzte seiner Linie, und mit ihm würde auch der Name sterben. Im Grunde machte er sich nicht viel daraus. Es hatte ihm nie einen Dreck bedeutet, Aristokrat zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil er ohnehin dem niedersten Rang angehörte und jeder andere Clan auf ihn herabsah. Und er war Esper, was in den sorgfältig kontrollierten Blutlinien und bei den arrangierten Eheschließungen zwischen den Familien eigentlich hätte unmöglich sein müssen. Esper waren keine Personen. Sie waren Eigentum.
Aber irgendwann war ein Skye mit jemandem ins Bett gegangen, mit dem er es nicht hätte tun dürfen, und das Espergen tauchte in den Skye-Genpool ein, um schließlich in Julian ans Tageslicht zu treten. Hätten seine Eltern es herausgefunden, dann hätten sie dafür gesorgt, daß man ihn klammheimlich umbrachte. Aber sobald seine Kräfte zum Vorschein kamen, milderte der ältere Bruder Auric Julians Entsetzen und half ihm, vor der Familie und der Welt zu verbergen, was er wirklich war. Niemand erfuhr es je. Bis Auric starb und Julian sein Leben der Rebellion widmete.
Und jetzt war er wieder zu Hause und lebte allein in einem leeren großen Haus, dessen meiste Zimmer abgeschlossen waren und wo ihm nur ein paar alte Diener der Familie Gesellschaft leisteten. Sie blieben aus Treue und aus der Erinnerung heraus, wie es früher gewesen war, weniger des Geldes wegen.
Was ihm nur recht war. Julian hatte als Holostar gut verdient, aber er hatte auch eine Neigung, das Geld so schnell wieder auszugeben, wie es hereinkam. Hätten die Bankleute weniger Angst vor ihm gehabt, wären wahrscheinlich schon Drohbriefe von ihnen gekommen. Er hätte sich Sorgen über seinen künftigen Lebensunterhalt gemacht, wenn er noch geglaubt hätte, eine Zukunft zu haben.
Er hatte inzwischen ständig ganz schön starke Schmerzen.
Natürlich gab es Schmerzmittel, aber die einzigen, die stark genug waren, hätten dazu geführt, daß er den ganzen Tag schlief oder matt herumstolperte wie ein Zombie. Er zog es jedoch vor, die Zeit, die ihm blieb, bei klarem Verstand zu verbringen. Er war ziemlich sicher, daß er diesmal sterben würde.
Schon auf Hakeldamach war er dem Tode nahe gewesen, aber Giles Todtsteltzer setzte seine besonderen Kräfte ein, um ihn wieder zu heilen. Nur erwies sich später, wie so oft bei Giles, der Anschein als nicht wirklichkeitsgemäß. Die Heilung war nicht von Dauer. Und Giles war inzwischen tot, während die übrigen vier Überlebenden des Labyrinths geheime Einsätze auf fremden Planeten ausführten. Und selbst, wenn er sie hätte aufspüren und sich überwinden können, sie um Hilfe zu bitten, bezweifelte er sehr, daß sie rechtzeitig nach Golgatha hätten zurückkehren können, um ihm in irgendeiner Form zu nützen, Und obendrein war er als Bittsteller nie besonders gut gewesen. Das war einer der Gründe, warum er sich überhaupt auf die Seite der Rebellion geschlagen hatte.
Julian dachte mit reuigem Lächeln an seine frühen Tage bei den Rebellen zurück. Er war so jung gewesen, so überzeugt von sich – bereit, auf jeden Einsatz zu gehen, jedes Risiko auf sich zu nehmen, solange es nur der Sache diente. Rückblickend mußte er einräumen, daß er es überwiegend des Nervenkitzels und der wilden Aktion halber getan hatte. Dabei vollbrachte er jedoch viel Gutes und rettete ebenso viele Menschenleben, wie er nahm. Die neue Regierung wollte ihm schließlich alle möglichen Auszeichnungen verleihen, aber er lehnte höflich ab. Er fand einfach nicht, daß er sie verdient hatte, weil ihm alles soviel Spaß gemacht hatte.
Bis ihn das Imperium gefangengenommen, in eine Verhörzelle gesteckt und den Folterknechten übergeben hatte.
Nur weil ihn seine einzige wahre Liebe, SB Chojiro, verraten hatte. Sie brach sein Herz, die Folterknechte brachen seinen Mut, und obwohl ihn Finlay Feldglöck schließlich rettete, war er später nie mehr der alte.
Er seufzte und gab sich Mühe, die alten und bitteren Gedanken zu verbannen. Falls er schon starb, war er entschlossen, aus dem ihm verbliebenen Leben das Beste zu machen. Ein bißchen Spaß zu haben, solange es noch ging. All das zu tun, was er sich schon immer gewünscht, aber nie verwirklicht hatte, weil die Rebellion dazwischengekommen war. Zwar hatte er seine Zeit als Rebell genossen und einen fairen Anteil an den Abenteuern und noch mehr gehabt, aber trotzdem hatte die Rebellion rasch sein ganzes Leben ausgefüllt. Nie war Zeit, sich zu entspannen, ganz loszulassen, mit ein paar Freunden eine schöne Zeit zu verbringen. Die Rebellion war sein Leben gewesen.
Und dann nahm sie es ihm weg. Durch den Sieg.
Er konnte nicht mehr auf Abenteuer losziehen. Seine Tage als Kämpfer waren vorüber. Die neue Ordnung fand schon keine Verwendung mehr für ihn, ehe seine Hinfälligkeit sichtbar wurde. Seine Art zu kämpfen, einfach aufs Ziel loszugehen und alle Folgen zum Teufel zu wünschen, kam außer Mode. Heutzutage geschah alles per Diplomatie, mit sorgfältig ausgearbeiteten Verträgen und Kompromissen, die in raucherfüllten Zimmern Gestalt annahmen. Normalerweise, während ein Vertreter des Schwarzen Blocks von der Seitenlinie aus leise Ratschläge erteilte. Alles war heutzutage Politik, und davon verstand Julian nichts.
Er hatte überlegt, nach Hakeldamach zurückzukehren und seine letzten Tage im Sommerland zu verbringen, aber das ging einfach nicht. Sein Tod hätte die Spielkameraden zu sehr erschreckt.
Die meisten seiner Freunde waren tot. Es war ein harter Krieg gewesen, und die Rebellion hatte junge Männer und Frauen so rasch verschlungen, wie sie sie rekrutieren konnte.
Julian lernte dabei auf die harte Tour, sein Herz nicht zu sehr an jemand anderen zu hängen. Sein einziger echter Freund war Finlay Feldglöck, und heutzutage war der alte Assassine in beinahe so schlechter Verfassung wie Julian. Bei Finlay lösten sich schon seit geraumer Zeit die Nähte, und je mehr Julian zu helfen versuchte, desto mehr stieß Finlay ihn weg.
Ansonsten war der einzige, den Julian wirklich bewunderte, der legendäre junge Jakob Ohnesorg gewesen. Julian kam nie richtig darüber hinweg, daß er einer Furie Gefolgschaft geleistet hatte, einer Kriegsmaschine von Shub in Gestalt eines Menschen. Er vernichtete die Furie mit seiner ESP, aber das half nicht. Es schien, als würde Julian jedesmal, wenn er sich überwand, jemandem sein Vertrauen zu schenken, von ihm verraten.
Er hatte den Mörder seines Bruders Auric getötet, den Maskierten Gladiator, und wenigstens darauf konnte er stolz sein.
Er hätte den Mistkerl ein Dutzend mal umbringen können, ohne der Sache überdrüssig zu werden.