Sie atmete schwer, ihre Augen nahmen die Umgebung nicht richtig auf, und sie klammerte sich mit verzweifelter Kraftanstrengung an ihn. Finlay gab den Versuch auf, ihr vernünftige Angaben zu entlocken, und trug sie zum Bett hinüber. Sie wollte sich jedoch nur auf die Kante setzen und nicht hinlegen. Ihre Augen waren rot und verschwollen vor lauter Weinen, und sie hatte keinen anderen Wunsch, als sich an ihm festzuhalten. Er drückte sie an sich und war bemüht, sie mit seiner Anwesenheit und seinem gelassenen Tonfall zu beruhigen.
»Was ist los, Liebste? Was ist passiert? Du bist hier in Sicherheit. Alles ist wieder in Ordnung. Was hast du da unterm Arm?«
Sie konnte oder wollte ihm nach wie vor nicht antworten. Er löste sich langsam und sachte aus ihrem Griff, wobei er die ganze Zeit beruhigende Worte murmelte, und machte sich daran, sie aus dem Bettlaken zu wickeln. Und erst jetzt entdeckte er, daß sie darunter nackt war und mit reichlich Blut bespritzt, das immer noch trocknete. Er untersuchte sie rasch auf Schnitte und andere Verletzungen und war nicht gänzlich beruhigt, als er feststellte, daß nichts von dem Blut von ihr selbst stammte.
Sanft zog er das Paket unter ihrem Arm hervor und wickelte es aus. Etwas, das klein und hart war, fiel heraus und plumpste auf den Boden. Es war der Griff des Monofasermessers, das sie ihn gebeten hatte, für sie zu besorgen. Er wickelte den Rest des Bündels auseinander und erblickte zwei Glaskrüge mit abgetrennten, aber noch lebendigen Köpfen. Er war so erschrocken, daß er sie beinahe fallenließ, schaffte es dann aber doch, sie mit zitternden Händen sicher auf den Boden zu stellen. Die Münder der Köpfe bewegten sich, aber er hörte nichts. Er wandte sich Evangeline zu, die über den Ausdruck in seinem Gesicht beinahe in hysterisches Kichern ausbrach. Mühsam beherrschte sie sich wieder und erklärte es ihm, wobei sie fast flüsterte.
»Der Mann ist Professor Wax. Ich kenne ihn nicht. Die Frau ist Penny DeCarlo, meine älteste Freundin. Mein Vater hat sie gefangengehalten. Ich habe sie gerettet.«
»Dein Vater? Du warst bei Gregor Shreck? Ganz allein? Was ist passiert? Woher stammt das ganze Blut?«
»Wir haben uns unterhalten. Danach… wurde es schwierig.«
»Warum hast du mir vorher nichts davon gesagt?«
»Das konnte ich nicht tun! Gregor hatte mich schon die ganze Zeit… bedroht. Gesagt, er würde Penny umbringen, falls ich nicht zu ihm zurückkehrte. Er bestand darauf, daß ich allein kam. Also habe ich den Turm der Shrecks aufgesucht, die Höhle des Löwen. Und ich habe herausgefunden, was er… mit Penny gemacht hatte. Also habe ich ihn gezwungen, beide herauszugeben, und sie dann mitgenommen.«
»Wie zum Teufel konntest du ihn überreden?«
»Ich hatte doch das Monofasermesser. Das, was du mir besorgt hast. Was für ein praktisches Geschenk!« Sie lachte fast wieder, als sie sein Gesicht sah. »Du bist nicht der einzige, der zu kämpfen versteht. Ein paar Wachleute haben versucht,’ mich aufzuhalten, als ich fliehen wollte, also habe ich sie umgebracht. Es war einfach. Nach einer Weile haben mich Gregors Leute nicht weiter verfolgt, und ich bin hierhergekommen.
Ich wußte nicht, wohin ich mich sonst wenden sollte.«
»Natürlich war es richtig, daß du hergekommen bist, Evie.
Hier bist du sicher. Aber was ist aus deinen Kleidern geworden?«
Evangeline packte ihn heftig am Arm. »Frage mich nicht danach, Finlay! Frage mich nie danach!«
»In Ordnung, ich tue es nicht. Beruhige dich. Verdammt, das war wirklich tapfer, Evie, aber du hättest mir doch etwas sagen sollen. Ich hätte Verständnis gehabt. Hat er dir weh getan? Bist du irgendwo verletzt? Soll ich einen Arzt holen? Falls Gregor dir weh getan hatte, bringe ich den Mistkerl um!«
»Nein«, sagte Evangeline rasch. »Ich bin nicht verletzt. Ich brauche keinen Arzt. Mir geht es gut. Mach keine Umstände, Finlay. Laß mich nur… wieder zu Atem kommen. Nachdem ich Penny befreit habe, hat Gregor kein Druckmittel mehr gegen mich. Alles kommt jetzt in Ordnung.«
»Tapferes Mädchen«, sagte Finlay, nahm sie wieder in die Arme und küßte sie sachte auf den Kopf. »Mein tapferes Mädchen.«
Der Holoschirm an der Wand klingelte einmal und gab damit kund, daß ein Anruf einging. Finlay traf Anstalten, das Gespräch anzunehmen, aber Evangeline packte ihn mit beiden Händen am Arm.
»Nicht antworten!«
»Ist schon in Ordnung, Evie. Nur wenige vertrauenswürdige Personen wissen, daß ich hier bin. Ich muß es annehmen, für den Fall, daß es dringend ist.«
Er befreite sich aus ihrem Griff, lächelte sie beruhigend an, stand vom Bett auf und aktivierte den Holoschirm. Das riesige, gerötete Gesicht von Gregor Shreck erschien dort, halb von einem blutdurchtränkten Verband bedeckt. Einen Moment lang starrte Gregor einfach nur vom Monitor herunter, betrachtete das Bild von Finlay und Evangeline; seine Lippen bebten und zuckten, und das gesunde Auge leuchtete.
»Was möchtet Ihr, Shreck?« fragte Finlay. »Und wie habt Ihr mich hier gefunden?«
»Meine Leute sind Evie auf dem ganzen Weg gefolgt. Sie glaubte, sie hätte sie abgehängt.« Gregors Stimme klang angespannt und schrill, aber voller Gift. »Sie hat Euch alles über ihr kleines Abenteuer im Shreck-Turm erzählt, was? Aber was hat sie Euch wohl nicht erzählt, hm, Feldglöck? Was ist mit den Dingen, die sie Euch nie erzählt hat, den Geheimnissen, die sie seit jeher vor Euch hütet? Soll ich Euch alles über Euren kleinen geklonten Liebling erzählen, hm?«
»Ich weiß, daß sie ein Klon ist«, antwortete Finlay kalt. »Und ich weiß, daß Ihr das Original ermordet habt. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, Evangeline und ich.«
»Oh, aber doch, ganz gewiß, mein lieber Junge! Das garantiere ich. Ich wette, sie hat Euch nie verraten, wie sehr ich sie liebte, oder präzise, wie ich sie liebte. Oh, ich habe sie stark und oft geliebt. Tatsächlich habe ich sie mit ins Bett genommen und sie Tag und Nacht geliebt, so kräftig ich konnte. Und sie hat es genossen!«
»Nein!« protestierte Evangeline. »Nein!«
»Ihr Mistkerl!« brüllte Finlay, das Gesicht hellrot vor Zorn.
»Ihr Mistkerl!«
»Ich habe sie flachgelegt, Feldglöck, lange ehe Ihr es tatet!
Sie war Vatis Mädchen und tat alles, was Vati ihr sagte. Und wir haben alle möglichen Sachen angestellt. Sachen, die sie für Euch wahrscheinlich nie getan hat. Sie ist auf ewig mein, Feldglöck, denn ich hatte sie auch als erster. Dafür habe ich sie ja herstellen lassen. Ich werde sie Euch wieder wegnehmen, und Ihr könnt mich nicht daran hindern.«
»Ich bringe Euch um!« drohte Finlay und rang nach Luft, so schmerzte ihn die Brust. »Ich bringe Euch um! Ich bringe Euch um!«
Gregor lachte ihn aus, und Finlay zog die Pistole und zerschoß den Bildschirm. Gregors Gesicht zersplitterte, und der Monitor fiel stückweise zu Boden. Rauch stieg aus dem Inneren des Apparats auf. Danach war es ganz still, abgesehen von Evangelines Schluchzen. Finlay stand da, die Pistole noch in der Hand, und wollte sich überlegen, was als nächstes zu tun war, aber Gregors gehässige Worte füllten seinen Kopf aus und verjagten jeden anderen Gedanken. Finlay zweifelte nicht einen Augenblick, daß es die Wahrheit gewesen war. Es war genau das, was man von Gregor Shreck erwarten konnte. Endlich steckte Finlay die Waffe weg und drehte sich langsam zu Evangeline um.
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?« fragte er.
»Weil ich wußte, daß du so reagieren würdest. Weil ich wußte, daß du wütend und verletzt sein würdest. Weil ich dachte, wenn du es wüßtest… würdest du mich verlassen. Würdest du nicht mehr die gleichen Gefühle für mich hegen.«
»Hast du dir nie… etwas aus Gregor gemacht?«
»Natürlich nicht! Ich war sein Eigentum! Ich hatte keine Wahl. Entweder tat ich, was er sagte, oder er hätte mich umgebracht und einen neuen Klon hergestellt, der ihm zu willen war.
Ich tat, was nötig war, um zu überleben.«