Er brauchte über eine Stunde, um den Boden zu erreichen, denn er kletterte vorsichtig und vermied es, die Wachleute des Turms auf sich aufmerksam zu machen. Zum Glück hatte die Explosion die Außensensoren des Gebäudes zerstört, und die Wachleute waren alle im Inneren, um bei der Brandbekämpfung auf den Ruinen der obersten Etage zu helfen. Finlay legte die letzten paar Fuß im Sprung zurück und landete heftig. Der feste Boden unter den Füßen fühlte sich gut an. Er blickte hinauf, verfolgte den Weg zurück, den er zurückgelegt hatte. Die Turmspitze war von Rauch und Flammen umhüllt. Julians Feuerbestattung. Finlay wußte immer noch nicht recht, was passiert war, aber er konnte es sich denken. Er hatte schon immer gewußt, daß SB Chojiro seinem Freund einmal den Tod bringen würde.
Finlay seufzte und entschied, daß es allmählich Zeit wurde, Gregor Shreck zu töten. Dann konnte er es genausogut auch jetzt tun. Alles, was ihm etwas bedeutete, war ihm geraubt worden. Sein engster Freund Julian. Jede Hoffnung auf eine Verbindung mit Adrienne und den Kindern. Und Evangeline, die er verloren hatte, indem er sie verließ, als sie ihn am dringendsten brauchte. Jetzt war er allein, und es stand ihm frei, zu tun, was er schon lange hätte machen sollen. Vor dem Gesetz würde er kein Verständnis finden. Ebensowenig bei seinen ehemaligen Freunden und Kameraden unter den Rebellen. Sie würden ihn als Mörder bezeichnen, als Renegaten, und sich zusammenschließen, um ihn zu jagen. Aber nichts davon bedeutete ihm etwas. Jetzt kam es nur noch darauf an, Gregor Shreck für all den Schmerz und das Grauen zu bestrafen, wofür dieser Mann die Verantwortung trug. Finlay nickte einmal und entfernte sich vom brennenden Turm.
Gregor hätte es wissen müssen. Der gefährlichste Mann ist immer derjenige, der nichts mehr zu verlieren hat.
Er hatte seine Waffen nicht hergegeben, als die Rebellion beendet war. Stets war er davon ausgegangen, daß er sie eines Tages womöglich wieder brauchte. Nur für den Fall, daß die neue Ordnung nicht funktionierte. Er bewahrte sie in einem sicheren Versteck auf, in einem Teil der Stadt, wo niemand Fragen stellte, und sprach niemals darüber. Nicht mal Evangeline wußte davon. Sie wäre nie damit einverstanden gewesen.
Ein Taxi brachte Finlay in weniger als einer halben Stunde dorthin. Er ließ ein gutes Stück davor anhalten, gab dem Fahrer genügend Trinkgeld, um sicherzustellen, daß der Mann sich nicht an seinen Fahrgast erinnerte, und legte den restlichen Weg zu Fuß zurück.
Er blieb vor der schlichten Stahltür stehen und prüfte sorgfältig, ob all seine versteckten Kontrollen intakt waren. Keine davon war ausgelöst worden. Das Geheimnis war also gewahrt.
Er öffnete das Schloß mit Daumenabdruck und Stimmkode und nickte zufrieden, als er feststellte, daß seine alten Freunde nach wie vor an Ort und Stelle waren. Schwerter, Äxte, Energiewaffen, Projektilwaffen, Granaten und all die übrigen nützlichen Kleinigkeiten, die er sich in seiner Zeit als Attentäter zugelegt hatte. Er verfügte über ausreichend Feuerkraft, um eine kleine Armee auszuschalten, und das war genau, was er vorhatte.
Zunächst zog er sich eine vollständige Körperpanzerung an.
Als nächstes kamen ein Energieschild-Armband ums linke Handgelenk und ein Schwertgurt um die Taille. Das Gewicht des Schwerts an der Hüfte fühlte sich beruhigend an, wie eine Heimkehr. An der anderen Hüfte wurde ein voll geladener Disruptor im Halfter positioniert. Eine Projektilpistole schob sich Finlay am Rücken hinter den Gürtel. Damit hatte er etwas Besonderes vor. Schließlich folgten zwei sich an Brust und Rücken kreuzende Schultergurte mit diversen Granaten, mit Splitter-, Erschütterungs- und Brandgranaten. Finlay stampfte eine Zeitlang in der kleinen Kammer hin und her, um sich an die Gewichtsverteilung zu gewöhnen. Sein Plan war ganz einfach.
Er hatte vor, durch den Haupteingang des Shreck-Turms zu spazieren und jeden umzubringen, auf den er traf, bis er vor Gregor Shreck stand.
Und genau das tat er auch. Der Plan funktionierte erstaunlich gut. Die Sicherheitsvorkehrungen im Turm der Shrecks dienten, wie in den meisten Pastelltürmen, vor allem der Abwehr von Angriffen aus der Luft, die mit Gravschlitten vorgetragen wurden, oder von Bodenangriffen starker Kräfte. Sie waren keine zureichende Vorbereitung auf einen einzelnen Killer mit kalten Augen und kaltem Herzen, dem es egal war, ob er überlebte oder starb. Finlay ging auf die Wachtposten vor dem Haupteingang zu, schoß dem einen ins Gesicht und schnitt dem anderen die Kehle durch. Eine Richtungsladung aus dem Schultergurt pustete die Tür aus den Angeln. Finlay warf eine Splittergranate in die Eingangshalle, wartete, bis sie detonierte und die Schreie einsetzten, stolzierte in den rauchverhangenen Raum und metzelte die wenigen Leute nieder, denen die Granate noch nicht den Rest gegeben hatte. Er warf auch eine Brandgranate, um zur Ablenkung ein Feuer zu legen, und stieg die Treppe ins nächste Stockwerk hinauf. Er war nicht so blöd, daß er den Fahrstuhl benutzt hätte.
Wachleute kamen die Treppe heruntergelaufen, und er brachte sie sämtlich um. Stetig bahnte er sich den Weg nach oben und hielt an jedem Stockwerk an, um Granaten und Brandsätze zu werfen. Wer nicht bei den Detonationen umkam, sah sich rasch mit dem Versuch beschäftigt, den sich ausbreitenden Bränden und dem Rauch zu entrinnen. Die Sprinkler gaben ihr Bestes, aber sie waren nicht dazu konstruiert, mit dergleichen fertig zu werden. Der Wachleute war kein Ende, und Finlay tötete sie alle, außer denen, die genügend Verstand aufwiesen, um sich umzudrehen und wegzulaufen, als sie den Tod auf sich zukommen sahen.
Finlays Schwertarm schmerzte allmählich, und das Blut, das an seinem Panzer herabtropfte, war jetzt manchmal sein eigenes, aber er scherte sich nicht darum. Er tat, wozu er geboren war, und er leistete gute Arbeit. Sein Energieschild lenkte die Schüsse der Strahlenwaffen ab, und im engen Treppenhaus konnten sich ihm jeweils nur wenige Wachleute gleichzeitig entgegenstellen, was nicht reichte, um ihn aufzuhalten, nicht annähernd. Er stieg über die Leichen hinweg und setzte seinen Weg fort.
Inzwischen hatte er in der Hälfte aller Stockwerke Feuer gelegt. Dichter schwarzer Qualm wogte hinter ihm die Treppe herauf. Er hörte die Schreie der Panik und das Heulen der Alarmsirenen, und es war Musik in seinen Ohren. Sollte der Turm der Shrecks brennen! Er hatte nicht vor, wieder hinunterzusteigen.
Und schließlich gingen Gregor die Wachleute aus. Ihre eindrucksvoll aussehenden Rüstungen taugten nicht viel im Kampf auf engstem Raum, und in Anbetracht des Turms, der rings um sie in Flammen stand, entschieden die meisten, daß sie nicht gut genug bezahlt wurden, um sich diesem Irren zu stellen, und gaben Fersengeld. Finlay stieg weiter nach oben und hustete manchmal im Rauch, wurde aber nicht langsamer.
Er erreichte die oberste Etage und ging den verlassenen Korridor entlang, wobei er unterwegs die Türen eintrat, bis er die Panzertür zu Gregors Privatquartier erreichte. Er pustete sie mit einer gerichteten Sprengladung aus der Fassung und marschierte durch den Rauch in Gregors blutroten Mutterschoß von einem Zimmer.
Gregor saß auf dem riesigen Rosenblattbett und hatte die Decke schutzsuchend um sich gerafft. Die Hälfte seines übergroßen Gesichts war unter einem blutdurchtränkten Verband versteckt, und Finlay lächelte kurz. Evangeline hatte gute Arbeit geleistet. Aber neben dem Bett stand, die Pistole in der Hand, eine große, schlanke Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, um die bleiche Haut und die feinen Gesichtszüge zu betonen.
Valentin Wolf. Finlay lachte leise, ein beunruhigender Laut, der nicht ganz danach klang, als hätte Finlay noch seine sieben Sinne beisammen. Gregor zuckte zusammen. Valentin tat es nicht.