»Ich war auf Golgatha vollkommen glücklich«, entgegnete Ruby. »Ich habe dort in einer zivilisierten Stadt gelebt, wo das Wetter tut, was man ihm sagt, und ging möglichen Verbindungen zu Shub nach. Aber nein, der verdammte Jakob Ohnesorg muß ja wieder als Held losziehen und mich mit in die Sache hineinziehen!« »Du weißt, daß wir kommen mußten«, sagte Ohnesorg. Er wandte sich wieder an den Sergeanten. »Seid Ihr sicher, daß sich Jung Jakob Ohnesorg irgendwo dort unten herumtreibt?«
»O ja! Wir haben Holovidaufnahmen, falls Ihr sie sehen möchtet.« Müller verzog den Mund, als hätte er gerade etwas Saures gekostet. »Der Kameramann wurde geröstet, ehe er viel senden konnte, aber wir sind ziemlich sicher, die Furie richtig identifiziert zu haben. Ich dachte, Ihr hättet erzählt, er wäre auf Golgatha umgekommen.«
»Das ist er«, bekräftigte Ohnesorg. »Zeigt uns die Aufnahmen.«
Der Sergeant stellte die Verbindung zum Lektron der Pinasse durch, und das Holovid wurde über Ohnesorgs und Rubys Komm-Implantate abgespielt und direkt durch ihre Sehnerven geleitet. Die Kabine der Pinasse verschwand, und ruckhafte Bilder von einem Dorf in Flammen traten an ihre Stelle. Windböen fachten die Brände immer wieder an, und schwarzer Qualm wogte durch die Straßen, stark durchsetzt mit Rußflocken und Asche. Überall lagen Leichen – Männer, Frauen und Kinder in großen Blutlachen. Nicht alle Leichen waren noch vollständig.
Geistkrieger marschierten steif durch das Inferno, ungerührt durch die gewaltige Hitze – wandelnde Tote, deren graues Fleisch auf den Knochen verfaulte. An ihrer Spitze schritt singend und lachend, ein bluttriefendes Schwert in einer Hand, der junge Jakob Ohnesorg. Groß, muskulös, gutaussehend, jeder Zoll ein legendärer Held. In der anderen Hand hielt er einen abgetrennten Menschenkopf an den blutverklebten Haaren. Er blieb stehen, als er die Kamera spürte, drehte sich um und stellte sich in Pose, wobei sich seine Umrisse vor den blutroten Flammen eines brennenden Hauses abzeichneten. Er lächelte breit und zeigte perfekte weiße Zähne. Von seiner silbernen Rüstung rann das Blut, aber nichts davon war sein eigenes. Er hielt den abgetrennten Kopf mit dem Gesicht zur Kamera, lachte und deutete mit dem blutigen Schwert darauf.
Zwei Geistkrieger näherten sich der Kamera. Die Aufnahme brach plötzlich ab, und die Kabine der Pinasse wurde wieder sichtbar. Ohnesorg und Ruby sahen sich gegenseitig an.
»Nun?« fragte Müller. »Ist er das?«
»O ja«, sagte Ruby. »Das ist Jung Jakob Ohnesorg, mit dem beschäftigt, was er am besten kann.«
»Und wie lautet die wahre Geschichte?« wollte der Sergeant wissen. »Offiziell ist der Mann als Held gestorben, als er die Straßenkämpfe in Parade der Endlosen anführte. Inoffiziell kursieren alle möglichen Gerüchte. Manche behaupten, er wäre von den eigenen Leuten getötet worden, weil er sie verraten hätte. Andere sagen, Ihr und Eure Freunde hättet ihn umgebracht, weil er nicht mit dem Abkommen einverstanden gewesen wäre, das Ihr mit dem Schwarzen Block ausgehandelt habt.
Wieder andere sagen, er wäre nie umgekommen. Er wäre einfach fortgegangen, erfüllt von Abscheu über all die Gemetzel, um erst zurückzukehren, wenn das Imperium in größter Not wäre. Vielen Leuten hat besonders diese Version gefallen. Wie es heißt, hätten sich Leute um ihn geschart wie um einen Erlöser, als er auf Loki erschien. Bis von den wenigen Überlebenden die Nachricht kam, daß er eine Armee von Geistkriegern anführte und nicht daran interessiert war, Gefangene zu machen. Also, erklärt es mir. Falls ich diesem Mann auf dem Boden gegenübertreten muß, habe ich ein Recht, alles zu erfahren.«
»Natürlich habt Ihr das«, sagte Ohnesorg. »Er ist kein Mensch. Er ist eine Maschine. Eine Furie. Ihr versteht sicherlich, warum wir dachten, wir müßten das geheimhalten.«
»Jesus!« sagte Müller. »Aber… er war ein Held! Er hat die Rebellion mit angeführt!«
» Shub hat hier eine langfristige Perspektive verfolgt«, erklärte Ruby. »Für den Fall unseres Sieges wollten sie einen der ihren in einer Position mit Macht und Einfluß haben. Wer Jung Jakob Ohnesorg wirklich war, das haben wir nur durch Zufall herausgefunden. Ein Esper-Kollege hat seinen Körper völlig zerstört. Hat ihn flachgedrückt wie ein metallisches Verkehrsopfer.«
»Wie konnte er dann wieder hier auftauchen und Ärger machen?«
»Sieht so aus, als hätte Shub einen neuen gebaut«, sagte Ohnesorg. »Eine weitere Nachbildung von mir. Ich schätze, ich sollte mich geschmeichelt fühlen. Das ist psychologische Kriegsführung. Ein kleines Extra, um die Moral der Menschen zu untergraben. Oder vielleicht ein Köder, der mich herlocken sollte, aus Gründen, die nur die abtrünnigen KIs kennen. Wenn wir die Furie gefunden haben, werde ich mich nachdrücklich davon überzeugen, was sie über die Sache weiß. Bevor ich sie erneut vernichte.«
»Falls wir sie finden«, gab Ruby zu bedenken. »Furien können verflucht viel einstecken. Julian Skye war ein starker Esper. Wir haben keine Garantie, daß wir jemanden seines Kalibers dort unten antreffen.«
»Julian Skye hat das Original umgebracht?« fragte der Sergeant, und seine Miene hellte sich auf. »Verdammt, ich sehe mir seine Serie regelmäßig an! Er war ein echter Held!«
»Ja«, sagte Ohnesorg. »Einer der wenigen, auf die das zutrifft. Ich wünschte, wir hätten ihn hier dabei.«
»Ist wahrscheinlich zu stark mit Nahaufnahmen beschäftigt«, meinte Ruby. »Während wir die Schmutzarbeit übernehmen, wie immer. Was ist los, Sergeant? Reichen dir zwei lebende Legenden nicht?«
»Sollte keine Beleidigung sein!« antwortete der Sergeant schnell. »Jeder weiß, was Ihr geleistet habt. Und ich bin sicher, den echten Jakob Ohnesorg als Anführer zu erhalten wird wahre Wunder auf die Moral der Zivilisten zeitigen.«
Die Pinasse schlingerte wild hin und her, als sie in eine weitere Turbulenz geriet. Die Sicherungsnetze schwankten heftig und rammten die in ihnen sitzenden Personen aneinander. Die Kabinenbeleuchtung flackerte und drohte auszufallen, hielt aber irgendwie durch. Donner grollte fast unaufhörlich; Blitze krochen am Rumpf entlang, und der Sturm heulte wie mit Stimmen. Die andauernden Flüche des Piloten wurden immer schlimmer, während seine Hände über die Steuerung huschten.
Der Sergeant schwenkte sich aus seinem Sicherungsnetz heraus und hielt sich an zwei getrennten Griffen fest, um sich gegen das Rollen und Schaukeln der Maschine zu sichern.
»Ich sehe lieber mal nach, ob ich dem Piloten helfen kann!
Bin gleich zurück!«
Er stolperte den schmalen Zwischengang entlang, warf sich auf den Platz des Copiloten und schnallte sich dort an. Seine Lippen und die des Piloten bewegten sich, aber Ohnesorg verstand nichts. Die beiden hatten auf einen Privatkanal ihrer Komm-Implantate umgeschaltet, was andeutete, daß wirklich schlechte Nachrichten vorlagen. Ohnesorg wandte den Blick ab und musterte die übrigen Marineinfanteristen in ihren Sicherungsnetzen ihm gegenüber. Sie beachteten ihn nicht; jeder war in seine eigenen Rituale der Beruhigung vertieft.
Einer schob einen Neon-Rosenkranz zwischen den Fingern hindurch, hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen im lautlosen Gebet. Ein anderer versuchte, seinem Nachbarn, der zu schlafen vorgab, einen endlosen Witz zu erzählen. Die übrigen tauschten eine metallene Feldflasche irgendeines Inhalts miteinander, boten sie aber nicht Ohnesorg oder Ruby an.
Ohnesorg gab seiner Gefährtin einen Wink, sie möge sich näher zu ihm herüberbeugen. Normalerweise wäre jedes Murmeln in diesem Lärm untergegangen, aber Jakob und Ruby verstanden sich immer, egal unter welchen Bedingungen. Wieder eine der Gaben des Labyrinths.
»Ich hatte mich gefragt, warum man uns hierher schicken wollte, wo wir doch soviel Erfolg damit hatten, die Verbindungen von Shub zu enttarnen«, sagte Ohnesorg. »Aber falls das dort unten wirklich der junge Jakob Ohnesorg ist, dann sind wir womöglich die letzte Hoffnung für Loki.«