Wenigstens waren die Triebwerke noch nicht explodiert.
Ohnesorg wandte sich ab und konzentrierte sich auf die Felswand vor ihm. Sie war definitiv nähergekommen. Was nur gut war, denn er fühlte sich entsetzlich. Jeder Schritt erschütterte die gebrochenen Rippen, und er war sich ziemlich sicher, daß er auch ernste innere Verletzungen erlitten hatte. Er hatte jetzt fortlaufend Blut im Mund, egal wie oft er es ausspuckte. Ruby lehnte sich immer schwerer auf ihn und beschwerte sich inzwischen nicht mehr, was stets ein schlechtes Zeichen war. Sie mußten bald einen Unterschlupf finden, wo sie sich ausruhen und hoffentlich gesunden konnten.
Selbst wer über der menschlichen Natur stand, hatte Grenzen.
Als sie endlich an den Fuß der Klippe stolperten, kam es ihnen wie ein Wunder vor. Ohnesorg entdeckte eine Höhlenöffnung und deutete darauf, begleitet von einem heiseren Krächzen – dem äußersten, was seine Stimme noch hervorbrachte.
Sie zerrten sich mit einem letzten Kraftaufwand die schartige Felswand hinauf, angelockt von einem möglichen Ende ihrer Mühen. Die Höhlenmündung durchmaß gute drei Meter, und hinter ihr lauerte undurchdringliche Finsternis. Ohnesorg zog eine Minitaschenlampe aus dem Ärmel und richtete den dünnen gelben Strahl durch die Öffnung. Die Höhle war tiefer, als das Licht reichte. Ohnesorg und Ruby stolperten hinein und stützten sich dabei weiter.
Es ging ein gutes Stück hinein, und sie folgten dem Tunnel, bis sie das abgeschlossene Ende erreichten. Dort brachen sie auf dem harten Felsboden zusammen und lehnten sich an die tröstliche Stütze der Abschlußwand.
Die Luft war hier still und vielleicht sogar eine Spur wärmer, obwohl der niemals endende Sturm immer noch draußen heulte, als wäre er erbost darüber, um seine Opfer betrogen worden zu sein. Ohnesorg und Ruby saßen Schulter an Schulter nebeneinander, und beider Atmung und Herzschlag kehrten allmählich zu normalen Werten zurück. Die verschiedenen Schmerzen, unter denen sie litten, schienen sich für den Moment auf behagliche Distanz zurückgezogen zu haben, aber keiner von beiden hatte noch die Kraft, sich auch nur einen Zentimeter weit fortzubewegen. Ohnesorg schaltete die Taschenlampe aus.
Er brauchte die Energie vielleicht noch, und außerdem gab es im Moment eigentlich nichts zu sehen, was sich gelohnt hatte.
Er war todmüde. Seit er das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten hatte, war er daran gewöhnt, daß seine gelegentlichen Verletzungen rasch heilten, aber es lag jetzt schon lange zurück, daß er zuletzt so übel zugerichtet worden war. Er fragte sich, ob es letztlich doch eine Grenze für die Wunden gab, die sein Körper wieder heilen konnte. Falls ja, dann war das wirklich ein beschissener Augenblick, um es herauszufinden. Er hörte Ruby neben sich, die ruckhaft durch den Mund atmete.
Sie klang wirklich nicht gut.
»Ruby, bist du noch bei mir?«
»Leider ja.« Ihre Stimme klang angespannt und rauh. »Ich fühle mich beschissen. Wie geht es dir?«
»Bin auf dem Weg dorthin.« Ohnesorg knirschte mit den Zähnen, als plötzlich Schmerzen von den gebrochenen Rippen hochstiegen, und mußte dann husten, was noch mehr weh tat.
Ein dicker Klumpen Blut und noch etwas anderes stiegen ihm in den Mund, und er spuckte es aus. »Verdammt! Ich habe das scheußliche Gefühl, daß ein Stück Lunge dabei war.«
»Du versuchst nur, mich aufzuheitern. Ich wußte immer, daß ich in der Hölle enden würde, aber ich hätte nie gedacht, daß ich dorthin komme, während ich noch lebe. Vielleicht ist das auch gar nicht passiert. Vielleicht sind wir beide beim Absturz umgekommen…«
»Nein«, widersprach Ohnesorg. »Falls das die Hölle wäre, wären alle meine Freunde hier. Bleib ruhig sitzen und ruhe dich aus. Sammle wieder Kraft. Wenn es Morgen wird, haben wir einen Drei-Kilometer-Marsch vor uns.«
»Oh, halt die Klappe. Ich gehe nirgendwohin. Irgendeine Chance, über die Komm-Implantate mit jemandem Verbindung aufzunehmen?«
»Ich fürchte, nein. Die ständigen Stürme erzeugen ein übersättigtes elektrisches und magnetisches Feld. Es spielt jeder Art von Kommtechnik übel mit. Wir können niemanden darüber informieren, daß wir noch leben. Wir können nicht mal ein Leuchtspurgeschoß hochjagen. Wir stehen ganz allein da.«
»Irgendwie wußte ich, daß du das sagen würdest. Und wie sollen wir in einem solchen Wetter den Weg nach Vidar finden?«
»Ich spüre, wo es liegt«, antwortete Ohnesorg. »So viele Menschen – ich fühle ihre Gegenwart. Suche mal mit deinem Bewußtsein. Prüfe mal, ob du sie auch spürst.«
»Verdammt!« sagte Ruby einen Augenblick später. »Du hast recht. Es ist, als hätte ich einen Kompaß im Kopf. Ich wußte gar nicht, daß wir sowas können.«
»Im Gegensatz zu dir habe ich meine Fähigkeiten nicht einfach als selbstverständlich hingenommen«, sagte Ohnesorg.
»Ich habe geprüft, wozu ich fähig bin, und versucht, meine Grenzen zu erweitern.«
»Ich schätze, du warst in der Schule ein Lehrerliebling. Wie schade, daß du nicht herausgefunden hast, wie man unsere Heilungskräfte auf Trab bringen könnte.«
»Hab Geduld. Sie haben eine Menge Arbeit zu leisten. Mit der Zeit werden wir schon heilen.«
»Hoffentlich hast du recht, Ohnesorg. Noch nie im Leben habe ich mich so mies gefühlt. Sogar das Atmen tut weh. Falls ich es nicht besser wüßte… würde ich schwören, daß ich im Sterben liege…«
Ihre Worte verklangen. Ohnesorg hörte nicht mal mehr ihre Atemzüge. »Ruby? Ruby? Hörst du mich?«
»Brülle nicht herum! Der Kopf tut mir schon genug weh, auch ohne daß du mir ins Ohr schreist. Laß mich schlafen.
Vielleicht ist alles wieder in Ordnung, wenn ich aufwache.«
»Nein! Ich denke nicht, daß wir unseren Körpern soviel Arbeit allein zutrauen können. Wir müssen es selbst schaffen. Wende dich nach innen, konzentriere dich und lenke den Heilungsvorgang. Andernfalls wachen wir vielleicht nie wieder auf.«
»Du bist wirklich voller tröstender Worte, was? In Ordnung, ich habe zuviel Schmerzen, um mich zu zanken. Wie möchtest du vorgehen?«
»Versuche, deine Heilungsfähigkeit zu finden, genauso, wie du den Kompaß gefunden hast. Und sobald du sie hast, wirf sie mit äußerster Kraft in die Waagschale.«
Ruby nickte und schloß die Augen. Ohnesorg folgte ihrem Beispiel und richtete seine Gedanken nach innen, suchte nach etwas, das er sofort erkennen würde, sobald er es fand. Er verbannte die schmerzenden, gebrochenen Rippen aus den Gedanken. Er schaltete alle Sinne ab und versank immer tiefer im eigenen Bewußtsein. Er weigerte sich, hier zu sterben, während noch so viel zu tun war. Und er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, einen solch nutzlosen, sinnlosen, dummen Tod zu sterben. Der Zorn brannte heftig in ihm, und etwas regte sich in einem verborgenen Winkel, im Unterbewußtsein, dem geheimen Teil seiner selbst, den er nicht sehen konnte, wo jedoch seine Kraft ruhte. Und ein neues Feuer entsprang dort, breitete sich durch seine ganze Persönlichkeit aus, verzehrte alle Schmerzen und Schwächen mit seinen reinigenden Flammen.
Er wurde neu geschaffen und wiedergeboren, und er heulte auf vor schierem Hochgefühl, so lebendig zu sein.
Die Augenlider flogen auf, als er zurückstürzte und dabei schon jenen verborgenen Winkel seiner selbst vergaß, den er kurz berührt hatte. Er hob die Hände und beugte sie, und sie waren in bester Verfassung. Er sprang auf und grinste wie ein Idiot. Alle Verletzungen waren geheilt, alle Schmerzen verschwunden, und er konnte nicht mal mehr eine Narbe vorweisen. Er bemerkte, daß Ruby neben ihm stand und mit dem Fuß aufstampfte, um sich zu beweisen, daß das Bein nicht mehr gebrochen war. Sie sah ihn an und lachte ungläubig, und dann umarmten sie einander heftig.
»Verdammt!« sagte Ruby, als sie einander endlich wieder freigaben. »Ich fühle mich gut! Ich habe das Gefühl, als könnte ich es mit einer ganzen verfluchten Armee aufnehmen!«