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»Nirgendwo mehr Schmerzen?« fragte Ohnesorg. »Keine Schwachpunkte?«

»Verdammt, nein! Und bei dir?«

»Ich fühle mich wieder wie zwanzig. Ich fühle mich, als könnte ich es mit einem Grendel Mann gegen Mann aufnehmen und das Biest mit bloßen Händen auseinandernehmen.« Er brach ab und musterte Ruby nachdenklich. »Und vor gerade ein paar Augenblicken noch haben wir beide an die Tür des Todes geklopft. Ich bin verblüfft, daß wir auch nur den Absturz überlebt haben, geschweige denn es schafften, uns hierher zu schleppen. Allein der Schock so vieler starker Wunden hätte uns gleich umbringen müssen.«

Ruby zuckte die Achseln. »Nicht zum ersten Mal hätte uns etwas umbringen müssen, und wir haben trotzdem überlebt.

Das gehört mit zu dem, wer und was wir sind.«

»Aber wir haben gerade in wenigen Sekunden geschafft, wozu eine Regenerationsmaschine Wochen gebraucht hätte! Und ich habe keine Ahnung, wie das möglich war.«

»Ohnesorg, wirst du wohl wenigstens einmal im Leben das Positive sehen? Wir liegen nicht mehr im Sterben, wir sind wieder in Form, und die Pinasse ist schließlich doch nicht explodiert. Zähle mal die verdammten Segnungen zusammen!

Schlafen wir jetzt lieber etwas, damit wir beim ersten Tageslicht Richtung Vidar marschieren können.«

»Ja«, sagte Ohnesorg. »Schlafen hört sich wirklich gut an.

Aber wir müssen uns später mal über diese Erfahrung unterhalten, Ruby. Wir wissen nicht annähernd genug über die eigenen Fähigkeiten. Darüber, was wir alles schaffen können, wenn wir es uns nur vornehmen.«

»Wir kommen gut klar«, fand Ruby. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns schließlich kein Handbuch geliefert. Also lernen wir durch die Praxis.«

»Trotzdem stellt sich die Frage, wie wir diese Dinge vollbringen. Woher stammt die Energie dafür? Was haben wir gerade eben angezapft, um uns zu heilen, um uns vom Abgrund des Todes zurückzuholen? Ich vergesse das meiste schon wieder, aber woran ich mich noch erinnere, das macht mir richtig Angst. Es war, als hätte ich Gott angezapft…«

»Ich denke, du leidest allmählich an Größenwahn«, entgegnete Ruby streng, »Sei jetzt still, leg dich hin und schlafe. Wir haben morgen früh einen langen Weg vor uns.«

Sie wandte sich von ihm ab, legte sich auf den Höhlenboden und schloß die Augen, um zu zeigen, daß das Gespräch beendet war, soweit es sie anging. Ohnesorg betrachtete sie eine Zeitlang und legte sich dann neben sie. Er wußte, daß sich Fragen nicht in Luft auflösten, nur weil man sich weigerte, über sie zu reden, aber es hatte keinen Sinn, die Sache jetzt zu forcieren.

Trotzdem – nach Abschluß des laufenden Einsatzes war es überfällig, daß sich die überlebenden Veteranen des Labyrinths zusammensetzten und versuchten, ein paar Antworten auf die Frage zu finden, welcher Art ihre einzigartige Verfassung war.

Ohnesorg hatte im Grunde keinen Einwand dagegen, sich über das rein Menschliche hinauszuentwickeln; er wollte nur eine Vorstellung davon haben, wohin der Weg letztlich führte.

Nach Anbruch des Morgens standen sie gemeinsam an der Höhlenmündung und blickten ins Licht des neuen Tages hinaus. Der Sturm schien tatsächlich ein wenig nachgelassen zu haben, war aber trotzdem noch kräftig. Die Sonne Lokis war meist hinter brodelnden Wolken verborgen, aber ihr bleiches Licht wurde verstärkt durch die ständigen Blitze, die über den Himmel zuckten und die Landschaft darunter in grelles bläuliches Licht tauchten. Ohnesorg und Ruby nahmen den ersten richtigen Eindruck von der Landschaft, die sie in der Nacht durchquert hatten, schweigend in sich auf.

Das Tal war voller unheimlicher, grotesker Formen aus schwarzem Fels, die kein erkennbares Muster bildeten, aber an wachsame Posten erinnerten. Dahinter lag die Pinasse immer noch an der Absturzstelle vor einer dunklen Felswand. Sie sah aus wie ein zerbrochenes Spielzeug, zu zerbrechlich für groben Umgang. Am gegenüberliegenden Talausgang erblickte Ohnesorg mit Mühe noch eine freie Ebene, die mit weiteren dunklen, bedrohlichen Formen gesprenkelt war. Nirgendwo machte sich eine Spur von Leben bemerkbar: Keine Vegetation, keine Insekten, kein offenes Wasser. Nur die vom Wind geformte Landschaft, rauh und öde und absolut fremdartig.

»Ich schätze, das Leben hat hier nie einen Ansatzpunkt gefunden«, sagte Ruby. »Ist im Grunde auch gut so. Das letzte, was wir gebrauchen könnten, wären weitere Komplikationen auf unserer kleinen Wanderung nach Vidar.«

»Das ist eine schrecklich selbstbezogene Sicht, Ruby«, fand Ohnesorg.

»Na und? Worauf möchtest du hinaus?«

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich an diesen Gesprächen überhaupt noch beteilige. In Ordnung, geh voraus. Und halte die Augen offen! Jung Jakob Ohnesorg und seine verdammten Geistkrieger sollten sich eigentlich nicht in der Nähe herumtreiben, aber man weiß ja nie.«

»Guter Punkt«, fand Ruby. »Sollen sie nur alle kommen! Ich könnte ein bißchen Aktivität gebrauchen.«

Ohnesorg seufzte und folgte ihr aus der Höhle. Die Felswand hinabzuklettern erwies sich als viel einfacher als die umgekehrte Richtung, und wenig später schritten sie durch das Tal zur freien Ebene hinüber. Der Sturmwind blies nach wie vor heftig, aber Ohnesorg und Ruby verfügten jetzt wieder über ihre volle Kraft, so daß es ihnen nicht mehr annähernd soviel ausmachte wie tags zuvor. Selbst der scheuernde Staub, der in alle Ritzen drang, war nur noch ein minderes Ärgernis. Die Stelle, wo Vidar lag, brannte in ihren Gedanken wie ein Leuchtfeuer, und sie nahmen den nächsten Weg dorthin, den sie nur finden konnten.

Die Zeit verblaßte allmählich im Hintergrund. Ohne eindeutige Landschaftsmerkmale fiel es ihnen schwer festzustellen, wie weit sie gekommen waren. Von Bedeutung waren nur der Sturm und der harte, unnachgiebige Boden und die Stadt, die irgendwo vor ihnen lag. Und so hielten Ohnesorg und Ruby die Köpfe gesenkt, kniffen die Augen zusammen, um sie vor dem Staub zu schützen, und setzten ihren Weg fort.

Die Welt zog langsam an ihnen vorbei und sah überall nahezu gleich aus. Manchmal glaubte Ohnesorg, am Rand seines Blickfelds eine Bewegung zu sehen. Die Bewegung von etwas, das dunkel und langsam und unmöglich groß war. Aber immer, wenn er stehengeblieben war und genau hinsah, war es wieder im Sturm verschwunden. Er konnte sich gar nicht sicher sein, daß er tatsächlich etwas entdeckt hatte. Womöglich spielten ihm nur die Augen Streiche und riefen die Illusion einer Bewegung hervor, in einer Landschaft, wo sich nichts rührte. Also marschierte Ohnesorg weiter und hielt den Blick entschlossen nach vorn gerichtet. Was für eine Art Leben sollte schließlich unter solchen Bedingungen existieren? Nicht mal die Menschen wären hier, gäbe es nicht die Kobaltminen.

Er war so gut wie sicher, daß Ruby nichts gesehen hatte.

Falls doch, hätte sie zweifellos darauf geschossen.

Die dunklen Felsgebilde zogen langsam vorbei. Keine Form glich der anderen, und sie erinnerten Ohnesorg an antike Statuen vergessener Götter. Teils waren es schlichte Monolithen von Menschengröße, während am anderen Ende des Formenspektrums ganze Berge voller vom Wind geschnittener Spalten aufragten, die tief genug waren, um ein Sternenschiff darin zu verstecken. Ohnesorg hätte gern an etwas anderes gedacht, aber es gab einfach nichts anderes. Vielleicht handelte es sich bei den Steinen um die Überreste vulkanischer Aktivität, die einmal als geschmolzenes Gestein durch Risse im Boden heraufgedrückt worden waren, nur um sich dann in der kalten Luft zu verfestigen. Diese Erklärung war so gut wie jede andere.

O Gott, dachte Ohnesorg müde. Ich langweile mich wirklich sehr!

Und schließlich erreichten sie den Kamm eines langen Anstiegs und blickten hinunter, und da breitete sich Vidar, die Hauptstadt Lokis, vor ihnen über die Ebene aus. Sie bestand aus weit gestreuten, gedrungenen schwarzen Häusern, hier und dort durchsetzt mit dunklen Türmen eine Schattenfestung mit roten und gelben Augen wie Hochöfen, die an einen Bergbaubetrieb der Hölle gemahnte. Eine hohe Metallmauer umgab die Stadt, vom Scheuerstaub zu einem dunkelpupurfarbenen Schimmer blankgescheuert, durchbrochen von zwei massiven Metalltoren auf der Vorderseite. Der schwache Schimmer eines starken Kraftfelds schloß die Stadt über den Mauern ab. Man mußte feststellen, daß Vidar nicht im mindesten freundlich wirkte, aber Ohnesorg und Ruby waren es gewöhnt, an Orten zu erscheinen, wo sie nicht willkommen waren. Solange sie dort unten nur Schutz vor dem Sturm, saubere Betten und ein heißes Bad fanden, in dem sie sich vollsaugen lassen konnten, war Ohnesorg absolut bereit, innerhalb der Tore auf die Knie zu sinken und den Boden zu küssen. Ohne einander anzusehen, gingen Ohnesorg und Ruby den langen grauen Hang hinunter auf die dunkle Stadt zu.