Ohnesorg war erstaunt darüber, wie leicht es gegangen war.
Als er Wild ursprünglich darüber informierte, daß er Informationen haben wollte, die wahrscheinlich nur in den Hauptlektronen der Stadt zu finden waren, hatte er mit allerlei Problemen gerechnet. Statt dessen arrangierte Wild alles mit ein paar schnellen Anrufen bei alten Freunden.
»Ruft mal die Namen und Biographien aller Ratsherren auf«, sagte Ohnesorg. »Was hat sie hergeführt, und wer hat sie an die Macht gebracht?«
»Offiziell die Wähler«, antwortete Wild und bahnte sich mit der Leichtigkeit langer Übung seinen Weg vorbei an Sicherheitsblocks. »Aber da die Demokratie hier für uns alle ganz neu ist, werden Wahlen meist von denen gewonnen, die das meiste Geld für den Wahlkampf ausgeben können. Was die Biographien angeht… Es sind allesamt begnadigte Kriegsverbrecher. Wie gefällt Euch das? Alle fünf wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet und angeklagt, verurteilt und inhaftiert, nur um dann später eine Begnadigung angeboten zu erhalten, falls sie herkommen und die Leitung übernehmen.«
»Und das gilt auch für Bentley, den Sicherheitschef?«
»Jawohl. Er war der erste. Hat seine Stellung unter Tallon und Jacks angetreten. Soweit ich weiß, hat er immer gute Arbeit geleistet.«
»Wer hat die Begnadigungen genehmigt?« fragte Ohnesorg stirnrunzelnd. »Und wer hatte die Idee, diese Leute hierher zu schicken?«
»Diese Information ist hier nicht enthalten, Sir Ohnesorg.
Oder falls doch, dann ist sie so tief vergraben, daß ich nicht an sie herankomme. Aber nur jemand, der im Parlament eine recht hohe Stellung bekleidet, verfügt über die nötige Autorität, etwas Derartiges zu bewerkstelligen und gleichzeitig Stillschweigen darüber zu wahren. Ich kann Euch sagen, daß keiner der hiesigen Kolonisten etwas davon weiß. Viele von uns haben an der ursprünglichen Rebellion teilgenommen, und wir hätten diese Maßnahme auf keinen Fall akzeptiert. Verdammt, vielleicht kann man Tallon und Jacks letztlich doch in gewisser Weise rechtfertigen!«
»Es gibt keine Rechtfertigung für ein Bündnis mit Shub«, hielt ihm Ohnesorg entgegen. »Sehen wir mal nach, was wir sonst noch über die Ratsherren herausfinden können. Öffnet mal ihre Bankkonten. Ich möchte erfahren, was sie für ihre Arbeit hier einstreichen.«
Wild mußte zahlreiche Paßwörter benutzen, die er eigentlich nicht hätte kennen dürfen, aber schließlich erhielt er die Antworten, nach denen er suchte. Selbst die besten Systeme kapitulieren letztlich vor einem erfahrenen Hacker, und wie Wild bescheiden feststellte, gab es in Vidar sonst nicht viel zu tun, wenn man jung und unruhig war. Weshalb Loki unter allen Planeten des Imperiums den höchsten Anteil an Kyberratten in der Bevölkerung aufwies. Ohnesorg mußte darüber lächeln, aber das verging ihm gleich wieder, als er die Zahlen sah, die Wild für ihn ausgegraben hatte. Die Ratsherren erhielten Anteile an Loki s Bruttoproduktion. Nicht einfach einen Teil der Gewinne; vielmehr sahnten sie gleich an der Quelle kräftig ab. Sie steckten auch einen großen Anteil aller Steuern ein sowie von allen anderen öffentlichen Geldern, die ihnen unter die Finger kamen. Sie deponierten ihre Einnahmen auf Banken von Golgatha. Falls das so weiterging, würde die Wirtschaft auf Loki schließlich zusammenbrechen, obwohl die Ratsherren zweifellos schon ihre Flucht für einen Zeitpunkt arrangiert hatten, an dem jede Enttarnung noch in weiter Ferne lag.
Wild durchlief in wenigen Sekunden eine ganze Palette von Emotionen, von Erschrecken über Wut bis hin zu kaltem Zorn.
»Falls die Kolonisten davon wüßten, würden sie die Ratsherren aus den Betten zerren und auf der Stelle lynchen. Aber die Ratsherren können dieses Arrangement auf keinen Fall allein getroffen haben, Sir Ohnesorg! Jemand viel weiter oben muß sie decken. Jemand auf Golgatha.«
»Verdammt!« sagte Ohnesorg. »Vielleicht kämpfe ich wirklich auf der falschen Seite. Falls Tallon und Jacks darüber Bescheid wissen… Sagt mal, haben wir eine Möglichkeit, mit den Aufständischen in Verbindung zu treten? Geheim? Falls wir sie überreden könnten, ihre Klagen innerhalb des Systems vorzubringen, mit meiner Unterstützung…«
»Ihr versteht einfach nicht«, fand Wild, schaltete das Terminal aus und wandte sich Ohnesorg zu. »Ihr habt ja nicht gesehen, was die tun! Die Aufständischen kämpfen Seite an Seite mit den Geistkriegern. Sie haben die äußeren Siedlungen vernichtet – ganze Städte und Dörfer, hingeschlachtet bis zum letzten Mann, der letzten Frau, dem letzten Kind. Danach helfen die Aufständischen den Geistkriegern, die noch intaktesten erwachsenen Leichen einzusammeln, damit sie in Geistkrieger umgewandelt werden können. Die übrigen Leichen… Nicht nur die Truppen von Shub verüben Greueltaten. Ich rufe gleich mal einige Videoaufnahmen ab, die wir von ihrem letzten Angriff gemacht haben.«
Er schaltete einen Monitor ein, und Ohnesorg und Ruby verfolgten, wie Einheiten von Shub und den Aufständischen eine Stadt mit Feuer und Stahl und Grauen vernichteten. Wild betrachtete mehr die Gesichter seiner Gäste als die Ereignisse auf dem Bildschirm. Er kannte die Aufnahmen schon und wußte, daß er sie nie wieder vergessen konnte.
Geistkrieger stolzierten durch die Straßen und brachten alles um, was sich bewegte, von den eigenen Leuten mal abgesehen.
Sie waren Leichen mit grauer und blauer Haut, mit Metallaugen und grinsenden Zähnen, freigelegt hinter rissigen und verfaulten Lippen. Manche waren so übel zugerichtet, daß Knochen durch Risse im Fleisch zu erkennen waren oder Schleifen zerfetzter Eingeweide aus aufgeschlitzten Bäuchen hingen.
Lektronen-Implantate steuerten die Servomechanismen toter Gliedmaßen. Männer und Frauen, die nobel in der Schlacht gefallen waren, waren gegen ihren Willen aus der Ruhe gestört worden, um für Shub zu streiten. Schreckenswaffen waren sie und Schreckenstruppen; man konnte sie weder verletzen noch mit ihnen reden noch sie aufhalten. Solange die gepanzerten Lektronen-Implantate intakt blieben, solange blieb auch in Bewegung, was sonst vom Körper übrig war, und gehorchte ihren gnadenlosen Befehlen.
Sie pirschten sich mit unmenschlicher Geduld an ihre menschliche Beute heran. Häuser gingen ringsherum in Flammen auf, und der endlose Wind fächerte die Brände an. Die Lebenden fochten Schwert gegen Schwert mit den Toten, um ihre Heime zu retten oder vielleicht auch nur, um Zeit zu gewinnen, damit ihre Lieben entkommen konnten. Letztlich starben doch alle. Die Geistkrieger hielten nicht inne, bis alles, was gelebt hatte, reglos vor ihnen lag, tot wie sie selbst. Dazu hatte man sie programmiert. Sie zerrten die letzten Frauen und Kinder aus ihren Verstecken und inszenierten eine Show für die Kameras, indem sie ihre Opfer mit übermenschlicher Kraft zerrissen. Danach errichteten die Geistkrieger seltsame Konstruktionen aus Menschenteilen, mehrere Meter hoch, wobei Menschenknochen als Stützen dienten und augenlose Kindergesichter als Ornamente.
Die Szenerie verblaßte, und der Bildschirm schaltete sich selbst ab. Ohnesorg ließ Luft hervor, die er angehalten hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Er hatte im Verlauf der Jahre seinen Anteil an Tod und Gemetzel und Greueln gesehen, aber dieses unerbittliche, mechanische Morden gefror seine Seele.
Er sah Wild an.
»Ich habe Menschen mitmachen gesehen, Leute, die keine Geistkrieger waren. Sie haben auch gemordet und geplündert.