»Typische Terrortaktik von Shub«, meinte Ruby und musterte die Kisten interessiert. »Habt ihr versucht, den Inhalt mit Sensoren abzutasten?«
»Ja. Die Kisten sind anscheinend mit einem Stoff ausgelegt, den die Sensoren nicht durchdringen.«
»Womöglich Bomben«, überlegte Ruby, hockte sich vor die nächststehende Kiste und nahm den Deckel mit professionellem Blick in Augenschein. »Kein Schloß, keine Klammern, keine erkennbaren elektronischen Abwehreinrichtungen. Vielleicht sowas wie eine Warnung. Ich schlage vor, sie zu öffnen und mal zu sehen, was passiert.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Ohnesorg.
»Ruby und ich überleben eine Bombe wahrscheinlich sowieso.
Aber für alle Fälle schlage ich vor, daß Ihr Ratsherren Euch an die Wand gegenüber zurückzieht.«
Die Ratsherren folgten diesem Vorschlag eilig und machten sich nicht die Mühe, ihre Würde mitzunehmen. Ohnesorg hockte sich neben Ruby.
»Ich denke nicht, daß wir es hier mit einer Sprengfalle zu tun haben«, sagte er nachdenklich. »Ansonsten hätte sich der Absender nicht die Mühe mit zwei Kisten gemacht. Eine hätte gereicht für eine Bombe oder eine andere Terrorwaffe.«
»Vielleicht stecken eine Art von Furien darin«, überlegte Ruby stirnrunzelnd. »Die Kisten sind groß genug für kleinere Versionen davon. Aber wieso die Mühe mit Mordmaschinen, wenn eine Bombe genauso effektiv wäre?« Sie sah Ohnesorg an und lächelte. »Sollen wir ausknobeln, wer von uns die erste Kiste öffnet?«
»Ich öffne die erste Kiste«, sagte Ohnesorg. »Du mogelst immer.«
Er packte den Deckel der ersten Kiste mit festem Griff und riß ihn auf. Ein Schwall eiskalter Luft stieg auf, und Ohnesorg und Ruby wichen rasch zurück. Die Kiste rührte sich jedoch nicht weiter. Vorsichtig traten sie heran und blickten hinein.
Ein totes, ganz weißes Gesicht, mit Frost gesprenkelt, blickte zu ihnen herauf. Auch die offenen Augen waren von Reif überzogen. Ohnesorg und Ruby musterten einander und wandten sich wieder dem Inhalt der Kiste zu. Es war eine Menschenleiche, hineingerollt wie eine Schlange. Sie war vom Hals bis zu den Lenden aufgeschnitten, und Brust und Unterleib wirkten merkwürdig… flach. Ruby zog eine Braue hoch.
»Was immer ich erwartet habe, das jedenfalls nicht. Jemand, den du kennst?«
»Ich denke, nein. Warum sollte Shub uns einen Toten schicken? Und noch dazu einen sorgfältig konservierten?«
»Aber warum in dieser Weise arrangiert? Wieso haben sie nicht einfach eine größere Kiste benutzt?« Ruby griff hinein und packte eine Handvoll Haare des Toten. Sie versuchte, ihn herauszuziehen, aber die Leiche gab kaum nach, war teilweise an den Innenseiten festgefroren. Die froststarren Gewebe dehnten sich unter dem Zug mit lauten, knackenden Geräuschen.
Der lange Unterleibsschnitt öffnete sich langsam wie ein Mund, und erst jetzt entdeckten Ohnesorg und Ruby, daß die Leiche vollständig ausgeweidet war. Aus Brust und Bauch war alles entfernt.
»Der Schnitt ist präzise, wie mit dem Skalpell gezogen«, sagte Ohnesorg nachdenklich, und Ruby ließ das Haar los. Der Kopf fiel mit einem lauten, dumpfen Aufprall in die Kiste zurück. Ruby nahm die eigene Hand in Augenschein. Sie war fast ganz mit Reif überzogen. Ruby rümpfte die Nase, blieb aber von der Kälte unbeeindruckt und blickte wieder auf den hohlen Mann hinunter.
»Sie haben ihn wirklich ausgeräumt, Jakob. Sie haben nicht nur die Eingeweide herausgenommen, sondern auch die Knochen. Kein Brustkorb, kein Brustbein, selbst die Schlüsselbeine sind verschwunden. Aber warum schicken sie uns eine ausgenommene Leiche? Soll uns das vielleicht erschrecken?«
»Vielleicht ist es eine Warnung vor dem, was sie mit uns allen vorhaben«, überlegte Ohnesorg zweifelnd. »Uns toten, uns ausweiden und in Geistkrieger umwandeln. Werfen wir mal einen Blick in die andere Kiste. Vielleicht enthält sie die Antwort.«
Ruby öffnete die zweite Kiste und wedelte ungeduldig die kalte Luft mit den Händen weg, die dampfend daraus aufstieg.
Sie wollte schnellstmöglich den Inhalt sehen. Und dann rümpfte sie die Nase und warf Ohnesorg einen Blick zu. »Das ist wirklich widerwärtig.«
Ohnesorg beugte sich über die zweite Kiste. Ein Satz menschlicher Organe war ordentlich darin verpackt, blaßrosa und grau und mit schimmerndem Reif bedeckt. Sie waren sorgfältig mit menschlichen Knochen ausgelegt, um sie zu trennen.
Das Herz war in ein hübsches rosa Band mit Schleifchen gewickelt.
»Einen solchen Anblick hatte ich zuletzt als Klonpascherin«, stellte Ruby fest und starrte fasziniert die menschlichen Überreste an.
»Da ist ein weiterer Brief«, sagte Ohnesorg. »Unter dem Herzen.« Er streckte die Hand aus und zog das Papier vorsichtig unter dem massiven Organ hervor. Er studierte sorgfältig den Umschlag.
»Interessant. Er ist an uns adressiert. Shub weiß, daß wir hier sind.«
»Mach das verdammte Ding auf!« verlangte Ruby ungeduldig.
Der Umschlag enthielt einen einzelnen Bogen Papier mit einem Satz gedruckter Anweisungen. Ohnesorg faltete es vorsichtig auseinander, wollte das brüchige Papier nicht zerbrechen. Er studierte die Nachricht einige Augenblicke lang schweigend. Ruby schob sich neben ihn.
»Nun? Was steht da?«
»Es scheinen Anweisungen zu sein, wie man einen Menschen als Bausatz montiert. Ihnen zufolge müßte die Leiche wieder funktionieren, wenn man die Knochen und Organe in korrekter Reihenfolge zusammensetzt, sie schließt und auftaut.«
»Na, das ist einfach zu krank«, fand Ruby. »Sogar für mich.«
»Und merkwürdig«, sagte Ohnesorg. »Ich habe noch nie erlebt, daß Shub einen Sinn für Humor zeigte.«
Ruby schüttelte den Kopf. »Es ergibt einfach keinen Sinn.
Dachten sie, sie würden uns damit Angst einjagen?«
Ohnesorg zuckte die Achseln. »Sehen wir mal, was die Ratsherren zu sagen haben.«
Er winkte sie herüber, und sie kehrten zurück, etwas ermutigt durch die Tatsache, daß die Kisten nun doch nicht explodiert waren. Dann blickten sie hinein. Einer schaffte es noch bis zur Tür, ehe ihm schlecht wurde. Zwei weitere verschwand wieder gen Rückwand und weigerten sich zurückzukommen. Bentley und de Lisle blieben, wenn auch sichtlich erschüttert.
»Ich kenne diesen Mann«, sagte Bentley schließlich. »Er hat sich freiwillig gemeldet, um allein und unbewaffnet die Führer der Rebellen aufzusuchen und ein Abkommen auszuhandeln.
Er war früher ein Freund und Kollege von Terrence Jacks, dem ehemaligen Bürgermeister. Er dachte, die Freundschaft würde sein Leben garantieren. Er hätte es besser wissen müssen. Ich habe ihn gewarnt, aber er glaubte, daß mit gutem Willen auf beiden Seiten immer noch ein Abkommen möglich war.«
»Die Aufständischen haben das getan?« fragte Ruby. »Warum zum Teufel?«
»Um uns eine Nachricht zu schicken«, sagte de Lisle, »daß sie nicht an Verhandlungen interessiert sind. Da seht Ihr, was für einem Feind wir gegenüberstehen. Shub ist schon schlimm genug, aber die Aufständischen hier sind Tiere. Wir müssen diesen Vorfall geheimhalten. Er darf außerhalb dieses Zimmers nicht bekannt werden. Seid Ihr damit einverstanden, Sir Ohnesorg?«
»Ja. Die Leute brauchen davon nichts zu erfahren. Wir sagen einfach, die Kisten enthielten abgehackte Köpfe aus den äußeren Siedlungen. Das ist übel genug, um sie zu motivieren, ohne sie zu sehr zu erschüttern. Schafft das hier insgeheim weg.
Verbrennt es.«
»Ich habe da eine Idee«, sagte Ruby und lächelte boshaft.
»Was, wenn wir die Anweisungen ausführen und den Mann wieder zusammensetzen? Denkst du, es würde funktionieren?