Ich meine, Shub weiß vieles. Vielleicht steht er einfach auf und läuft wieder herum.«
Der Ratsherr an der Tür gab auch noch den Rest seines Frühstücks her. Seine Kollegen musterten Ruby mit offenem Ekel.
Ohnesorg schüttelte den Kopf.
»Ich denke nicht, daß wir einen solchen Weg einschlagen sollten. Wohin er uns auch führte, wir wären dann keine Menschen mehr. Verbrennt die Leiche, de Lisle, komplett. Und dann verstreut die Asche, nur für alle Fälle.«
Danach ging es relativ ruhig zu. Die Aufständischen marschierten gen Vidar und boten dafür eine einzige große Streitmacht auf, Menschen und Shub-Maschinen, die unterwegs alle Siedlungen vernichteten. Der Sturm blies weiter, aber alle wußten, daß eine Flaute bevorstand. Ohnesorg und Ruby verwandten die Zeit, die sie noch hatten, auf den Versuch, aus Vidars Freiwilligen so etwas wie eine Armee zu machen. An Freiwilligen herrschte kein Mangel, aber die meisten hatten noch nie eine Schußwaffe im Zorn abgefeuert. Sie waren ziemlich hart und tapfer, aber es kostete nun einmal Zeit, selbst aus dem willigsten Rekruten einen Soldaten zu formen, und alle wußten, daß ihnen die Zeit allmählich ausging.
Und so kam es doch für alle etwas überraschend, als sich Ohnesorg am zweiten Nachmittag von der Ausbildung verabschiedete, sie an Ruby übertrug und auf einen persönlichen Einsatz ging. Er hüllte sich in einen langen Umhang, zog die Kapuze herunter, um das Gesicht zu verstecken, und ging durch immer schmalere und schmutzigere Straßen in den wirklich heruntergekommenen Teil von Vidar. Jede Stadt weist einen Bezirk auf, den die respektablen Bürger nur heimlich aufsuchen, auf der Suche nach Vergnügungen, die vielleicht keinen Namen, wohl aber einen Preis haben. Ein paar Einheimische kamen auf die Idee, Ohnesorg abzufangen und ihn von Wertsachen zu erleichtern, mit denen er sich womöglich belastet hatte, aber ein kurzer Blick auf seine Strahlenpistole reichte gewöhnlich, damit sie es sich noch einmal überlegten. Ohnesorg mußte einen Mann erschießen, aber er schien nicht von einer Art gewesen zu sein, die irgend jemand vermissen würde.
Am späten Nachmittag erreichte Ohnesorg schließlich sein Ziel – einen heruntergekommenen Sauf schuppen, der wahrscheinlich schon vom Tage der Eröffnung an schäbig und verrufen gewirkt hatte. Ohnesorg blieb eine Zeitlang auf der Straßenseite gegenüber im Schatten stehen und stellte sicher, daß ihm niemand gefolgt war. Er glaubte zwar nicht, daß sich noch irgend jemand an ihn heranschleichen konnte, aber alte Gewohnheiten haben nun mal ein zähes Leben. Niemand hob den Blick, als er schließlich die schummerige Kneipe betrat. Es war ein Etablissement der Art, wo jeder sorgsam darauf achtete, sich nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Der Raum hatte keine Fenster, und die Beleuchtung war niedrig eingestellt, um Vertraulichkeit zu unterstützen. Es herrschte eine Atmosphäre von illegalem Rauch, billigem Parfüm und allgemeinem Verfolgungswahn. Die Kunden saßen zu zweit oder dritt an billigen Tischen, konferierten in gedämpftem Ton und schoben dabei anonyme Päckchen hin und her oder saßen einfach nur da und starrten in Drinks, die sie nicht anrührten, während sie auf ihre Kontaktleute warteten. Kein Sägemehl bedeckte den Boden; vermutlich hatte es jemand gestohlen. Ohnesorg hatte früher schon viel Zeit an solchen Orten verbracht und dort Leute getroffen, auf der Suche nach Antworten von einer Art, wie man sie nur in derartiger Gesellschaft erhielt. Er entdeckte seinen Verbindungsmann, der ein gutes Stück im Schatten saß, und ging zu ihm hinüber.
»Es sollte lieber einen verdammt guten Grund geben, mich herzurufen«, sagte er, während er die Sitzfläche des Stuhls mit einem Taschentuch abwischte, ehe er sich setzte. »Ich war meinerzeit schon in diversen Kaschemmen, und diese gehört definitiv in die gleiche Kategorie. Gott allein weiß, was sie hier für einen Sprit ausschenken.«
»Tatsächlich ist er ganz ordentlich«, versetzte Peter Wild.
»Verglichen mit dem Preis. Und wir treffen uns hier, weil das einer der wenigen Plätze ist, wohin mir de Lisles Informanten nicht zu folgen wagen. Ich habe noch am Lektron gesessen und mich tiefer in diese Dateien vergraben.«
»In Ordnung. Was habt Ihr herausgefunden?«
»Es sieht schlimmer aus, als wir dachten. De Lisle und seine Kumpane wurden mit dem klaren Ziel hierhergeschickt, um Lokis Wirtschaft zu ruinieren. Sobald sie ihre Arbeit getan hätten, wären ihre Bosse von Golgatha aufgetaucht und hätten alles für Schrottpreise aufgekauft. Einschließlich der Kolonisten selbst. Um ihre Schulden abzutragen, hätten diese sich lebenslänglich in Abhängigkeit begeben müssen. In jeder Hinsicht Sklaven, außer dem Namen nach.«
»Ist das denn möglich?« fragte Ohnesorg. »Ich habe einen ganzen Stapel Gesetze durchs Parlament gebracht, um genau solche Dinge zu verhindern.«
»Das Gesetz hilft auch nicht mehr viel, wenn es mit vollendeten Fakten konfrontiert wird. Niemand hatte irgendeinen Verdacht. Diese Typen wären damit durchgekommen, hätten die Aufständischen kein Abkommen mit Shub geschlossen und dadurch alles ins Chaos gestürzt.«
»Tallon muß es herausgefunden haben. Deshalb war er verzweifelt genug, um Shubs Truppen zu rufen.«
»Sieht so aus. Tallon und Jacks waren große Namen bei der ursprünglichen Rebellion. Entschiedene Idealisten. Helden. Es muß ihnen das Herz gebrochen haben, als sie entdeckten, daß alles vergebens gewesen war.«
»Sie hätten sich nicht an Shub wenden müssen«, fand Ohnesorg. »Sie hätten auch das Parlament informieren können. Sie hätten sich an mich wenden können. Ich hätte etwas unternommen, wäre ich nur informiert gewesen.«
»Ihr wart sehr beschäftigt«, gab Wild zu bedenken. »Wie viele Menschen wollten täglich mit Euch reden und wurden nur deshalb abgewiesen, weil die Zeit einfach nicht reichte? Ihr wart darauf angewiesen, daß Eure Mitarbeiter die Verrückten und die Zeitvergeuder aussortierten. Und auf eins könnt Ihr wetten: De Lisles Vorgesetzte haben auf die eine oder andere Art dafür gesorgt, daß Ihr nicht informiert wurdet.«
Ohnesorg saß eine Zeitlang schweigend da. Wild nippte an seinem Wein und sah zu, wie Ohnesorg vor sich hinbrütete.
Selbst wenn er so still dasaß, wirkte der alte Rebell aufgeweckt und gefährlich. Falls irgend jemand Loki noch zu retten vermochte, dann wohl er. Das Murmeln gedämpfter Unterhaltungen kreiste durch die Kneipe und stieg und fiel wie eine ferne Flut. Ohnesorg seufzte und schüttelte den Kopf.
»Ich habe die Rebellion gewonnen. Habe die Eiserne Hexe gestürzt. Und nichts hat sich verändert. Ich glaubte, nach dem Krieg würde ich endlich die Möglichkeit finden, meine Bürde niederzulegen und endlich ein eigenes Leben zu fuhren. Ich hätte es besser wissen müssen. Egal wie viele Kriege man ausfragt, es kommt trotzdem der nächste. Ich habe versucht, das Schwert des Kriegers abzulegen und Politiker zu werden, ein Mann des Friedens. Dabei glaube ich gar nicht an Politik. Habe ich nie. Ich glaube an richtig und falsch, nicht an Absprachen und Kompromisse.«
»Und doch habt Ihr in das Abkommen mit dem Schwarzen Block eingewilligt«, sagte Wild vorsichtig. »Weil andernfalls Millionen umgekommen wären.«
»Ja, ich habe Menschenleben gerettet, aber nur, weil ich Kompromisse in allen Punkten geschlossen habe, an die ich jemals glaubte. Ich hätte standhaft bleiben sollen. Hätte nein sagen und einen Dreck auf die Folgen geben sollen. Menschen wären gestorben, vielleicht ganze Planeten, aber letztlich wären wir Leute wie de Lisle für immer losgeworden. Womöglich ein fairer Preis. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich morgen eine Armee ins Feld führen muß, um gegen Rebellen zu kämpfen, die glatt das Recht auf ihrer Seite haben könnten – nur damit ich die Interessen von Abschaum wie de Lisle schütze.