Gebt die Nachricht weiter, Wild. Es wird Zeit zum Aufbruch.
Die Flaute erreicht das gewählte Schlachtfeld in wenig über sechs Stunden, und wir möchten doch nicht zu spät kommen.«
Wild nickte, lief zur Menge hinüber und brüllte Befehle.
Männer und Frauen sammelten sich zu Kompanien und stellten sich in Reihen auf, wie man es ihnen beigebracht hatte. Ohnesorg wandte sich an Ruby.
»Und los geht es, um die unseren erneut zu retten. Weißt du, Ruby, ich habe das vermißt. Auf dem Schlachtfeld ist alles so viel einfacher.«
»Genau dorthin gehören wir, Jakob. Mitten ins Getümmel und bis zum Hals ins Blut. Der Frieden war nur ein Traum.
Man kann sich nicht gegen das Schicksal wehren.«
»Vielleicht«, sagte Ohnesorg. »Vielleicht.«
Das große Tor öffnete sich, und die letzte Armee von Vidar marschierte Reihe auf Reihe durch die gewaltige Luftschleuse, hinaus ins Wüten des Sturms. Vor lauter Erwartung der bevorstehenden Schlacht achteten sie des stürmischen Wetters nicht.
Sie kamen gut voran durch die dunkle, zerklüftete Landschaft, und fünf Stunden später zogen sie durch ein schmales Tal, um die offene Ebene zu erreichen, wo mit der Sturmflaute gerechnet wurde. Sie bauten ein Lager mit verstärkten Zelten auf und warteten ungeduldig darauf, daß der Sturm vorüberging. Als die Flaute schließlich einsetzte, erschien es ihnen wie Zauberei.
Die Stimme des Windes verklang wie die Schlußnote eines Oratoriums, und plötzlich war es völlig still. Die Luft war unbewegt, wie im Auge eines Wirbelsturms, und der Staub sank langsam zu Boden. Es war wie das Ende der Welt, die letzte Pause vor dem Jüngsten Gericht. Die Armee trat aus den Zelten hervor und sah sich um, musterte die Heimatwelt mit neuen Augen. Die meisten kannten nichts anderes als endlosen Sturm.
Die Leute lachten und scherzten und jubelten und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, als wäre die Flaute schon das sichere Zeichen des Sieges. Wild wies sie an, den größten Teil ihrer Schutzpanzerungen abzulegen, damit sie im Kampf mehr Bewegungsfreiheit hatten. Und als das geschehen war, blieben alle einfach an Ort und Stelle stehen und blickten erwartungsvoll auf die Ebene hinaus. Die Welt war ganz still, als hielte sie den Atem an und wartete. Und dann übermittelten die Holokameras draußen auf der Ebene die ersten Bilder von den Streitkräften Shubs und der Aufständischen. Sie rückten an.
Ohnesorg, Ruby und Wild hockten vor einem kleinen Monitor und nickten zufrieden. Der Feind hatte den Köder geschluckt und warf alle seine Kräfte ins Feld.
Die Armee von Vidar flutete auf die Ebene hinaus, und der Feind stellte sich ihr entgegen. Beide Seiten hatten weder Zeit für raffinierte Taktik noch Bedarf daran. Die gegnerischen Kräfte prallten aufeinander. Gnade wurde weder erbeten noch gewährt, und Blut strömte auf den staubigen Erdboden.
Menschliche Kämpfer warfen sich gegen wandelnde Leichen, und beide dachten nicht im Traum an Kapitulation.
Innerhalb einer Stunde waren die meisten Lebenden beider Seiten tot.
Die Schlacht verlief chaotisch. Gruppen von Kämpfenden wogten hierhin und dorthin, jede davon nur mit ihrem eigenen Anteil am Gefecht bedacht. Schwerter stiegen und fielen, hackten nach lebendem und totem Fleisch. Und überall flammten und brüllten zuzeiten Disruptorwaffen auf. Männer und Frauen fielen und erhoben sich nicht mehr. Auch Geistkrieger fielen, auseinandergerissen von Energiestrahlen oder in Stücke gehackt von heulenden Kämpfern. Und zwischen den Lebenden bewegten sich die wandelnden Toten, angetrieben von kaltem, gefühllosem Denken, das in einem fort töten konnte und nichts dabei empfand. Die Leichen häuften sich auf beiden Seiten, und immer noch tobte die Schlacht weiter.
Peter Wild fiel unbemerkt.
Er hatte sich dicht an Ohnesorg und Ruby gehalten, ihnen den Rücken freigehalten und ihnen dabei voller Ehrfurcht und Staunen zugesehen. Er sah Menschen und Geistkrieger unter ihren Schwertern niedersinken, fast beiläufig zur Seite gefegt von überlegener Kraft und Schnelligkeit, und Peter Wild ging das Herz über, weil er in solcher Gesellschaft streiten konnte.
Er hielt die beiden für unverwundbar, geschützt vom Schicksal, und sich selbst ebenfalls, weil er an ihrer Seite focht. Er sah die Klinge nicht, die aus dem Nirgendwo hervorstieß, in seinen Brustkorb fuhr und wieder herausgezogen wurde. Hinter dem Stoß steckten Muskeln, die unterstützt waren von Servomechanismen, so daß Wild zu Boden geschleudert wurde, und gleichgültige Füße stampften rings um ihn herum.
Zunächst dachte er, daß ihm nur die Luft aus den Lungen gepreßt worden war, und versuchte, wieder aufzustehen. Aber die Beine gehorchten ihm nicht, und als er sich an die Seite faßte, tropfte ihm anschließend Blut von der Hand. Schmerzen überwältigten ihn, und er schrie auf. Er war niemand, der leicht aufgab. Er bemühte sich weiter, wieder auf die Beine zu kommen, selbst während das Leben schon aus ihm herausrann. Sein Platz war an Ohnesorgs Seite. Der Körper gehorchte ihm jedoch nicht. Dort starb er, ungesehen und unbemerkt. Peter Wild war ein tapferer Mann gewesen, aber nie mehr als ein normaler Mensch.
Jakob Ohnesorg und Ruby Reise, die so viel mehr waren als normale Menschen, kämpften heftig und unermüdlich, teilten mit jedem Schlag schreckliche Verletzungen und den plötzlichen Tod aus. Die kleinen Wunden, die sie selbst einsteckten, heilten fast sofort. Sie sahen Peter Wild nicht fallen und vermißten ihn auch erst sehr viel später. Zu sehr waren sie mit dem beschäftigt, worin sie am besten waren – trotz überwältigend schlechter Chancen zu überleben und jeden Gegner in Reichweite zu töten. Die Toten häuften sich ringsherum, die blutigen Leichen gefallener Rebellen neben dem grauen Fleisch niedergestreckter Geistkrieger. Und zu keinem Zeitpunkt bemerkten die beiden, daß sie allmählich, Schritt für Schritt, vom Hauptgetümmel der Schlacht getrennt wurden.
Die Menschen auf beiden Seiten brauchten nur wenig über eine Stunde, um sich gegenseitig weitgehend auszurotten. Sie registrierten überhaupt nicht, daß sich die Streitkräfte von Shub zurückgezogen hatten. So sehr waren die Menschen in ihre eigenen Nöte vertieft, daß sie nicht mitbekamen, wie die eigentliche Schlacht um Lokis Zukunft woanders ausgetragen wurde.
Das lange schmale Tal zwischen der freien Ebene und der Stadt Vidar hatte nicht viel hergemacht, als die Armee der Stadt hindurchmarschierte, aber Ohnesorg hatte seine strategische Bedeutung erkannt. Es war der einzige Weg nach Vidar, der einen tagelangen Umweg einsparte. Falls die Geistkrieger die Stadt erreichen wollten, solange die Flaute noch anhielt, mußten sie durch das Tal. Als Ohnesorg und Ruby schließlich bemerkten, wie weit sie vom Rest ihrer Truppen getrennt worden waren, vergeudeten sie keine Zeit, hackten sich einen Weg durch die sie umzingelnden Geistkrieger und rannten wie die Teufel Richtung Tal. Ihnen blieb jetzt nur noch, die einzige strategische Stellung zu verteidigen, die wirklich von Bedeutung war.
Sie ließen ihre Verfolger rasch zurück und bezogen am Taleingang Abwehrposition. Das Tal war über anderthalb Kilometer lang, aber kaum sieben Meter breit und verschmälerte sich am Ausgang bis auf drei Meter. Was bedeutete, daß zwei Leute hier eine Armee aufhalten konnten. Eine Zeitlang. Ohnesorg und Ruby stützten sich müde aufeinander, während sie wieder zu Atem kamen. Sie hatten eine ordentliche Strecke aus Leibeskräften rennen müssen, und selbst übermenschliche Lungen und Beine hatten Grenzen. Der Kampf selbst war ebenfalls lang und hart gewesen, und beide hatten dabei Kraft und Schnelligkeit bis an die Grenze strapazieren müssen. Nach einer Weile gingen die Atemzüge wieder langsamer und hämmerten die Herzen nicht mehr ganz so heftig, und jeder konnte von neuem aus eigener Kraft stehen. Sie blickten hinaus zur Armee aus wandelnden Leichen, die sich auf der Ebene sammelte, und fluchten unisono. Es waren fast eintausend Geistkrieger mit Schwertern und Schußwaffen und der absoluten Bereitschaft, sich vernichten zu lassen, falls das nötig war, um den Gegner niederzuringen.