»Kann nicht behaupten, daß mir die Chancen gefallen«, stellte Jakob Ohnesorg fest. »Tausend gegen zwei ist doch ein klein wenig besorgniserregend.«
»Wir hatten schon schlechtere Chancen«, hielt ihm Ruby Reise entgegen.
Ohnesorg musterte sie. »Falls das stimmt, muß es mir entgangen sein. Im Angesicht von eintausend Geistkriegern kämen selbst Owen Todtsteltzer Zweifel. Allerdings müssen sie uns von vorne angreifen, also jeweils nur eine Handvoll. Wenn wir unsere Kräfte einteilen, könnten wir gerade eben länger durchhalten als diese Bastarde.«
»Es sei denn, sie tüfteln eine Methode aus, wie sie uns auch im Rücken angreifen können. Oder an den Flanken des Tals herunter.«
Ohnesorg blickte hinter sich ins Tal und runzelte nachdenklich die Stirn. »Unwahrscheinlich. Sie brauchten zwei Tage, um den Taleingang gegenüber zu erreichen, und so lange werden wir nicht hier sein, aus dem einen oder anderen Grund.
Und die Bergflanken fallen fast senkrecht ab. Nein, Ruby, sie müssen uns frontal angreifen.«
»Ist auch am besten so«, sagte Ruby lebhaft. »Wir brauchen also nur die Geistkrieger abzuwehren, bis unsere Seite gewonnen hat und zu unserer Unterstützung kommt, nicht wahr?«
»Nein«, antwortete Ohnesorg langsam. »Soweit ich die Schlacht überblicken konnte, denke ich nicht, daß wir mit Hilfe rechnen dürfen. Wir müssen davon ausgehen, daß nur noch wir zwischen Shub und Vidar stehen. Falls wir sie abwehren, bis die Flaute vorüber ist und der Sturm zurückkehrt, dann haben wir gewonnen und ist die Stadt in Sicherheit.«
»Und was ist mit uns?« wollte Ruby wissen.
»Wir haben uns schon einmal durch den Sturm bis zur Stadt durchgeschlagen. Wir schaffen es auch erneut.«
»Und die Schlacht?«
»Gott weiß«, sagte Ohnesorg. »Soweit ich zuletzt überblicken konnte, hatte die Armee der Stadt die Aufständischen in die Seile getrieben, aber die eigentliche Gefahr ging immer von Shub aus. Und ich denke nicht, daß wir denen viel Beulen verpaßt haben. Und noch etwas anderes macht mir Sorgen.«
»Dir macht immer irgendwas Sorgen«, sagte Ruby resigniert.
»Was ist es diesmal?«
»Ich habe bislang keine Spur von Jung Jakob Ohnesorg gesehen. Er hat sich nirgendwo in der Schlacht blicken lassen.
Das hätte ich bemerkt. Wo also steckt er, und was führt er im Schilde?«
»Verdammt, du hast recht! Das ist besorgniserregend.«
»Wenn dir das schon gefällt, wirst du hiervon begeistert sein: Wieso greifen uns die Geistkrieger nicht an?«
»In Ordnung, ich komme nicht drauf. Wieso?«
»Weil sie auf jemanden warten. Höchstwahrscheinlich auf Jung Jakob Ohnesorg. Mit Verstärkungen, die er bislang noch nicht ins Feld geworfen hat.«
Auf der Ebene ertönte ein Geräusch, und sie blickten hinüber. Das Geräusch löste sich schnell zum rhythmischen Stampfen marschierender Füße auf, und eine zweite Totenarmee rückte aus der Ferne an, locker tausend Mann stark, mit der glänzend silbernen, gepanzerten Gestalt des lächelnden Jung Jakob Ohnesorg an der Spitze. Sie gesellten sich zur lautlos abwartenden ersten Streitmacht, standen dann reglos in Reihen aufmarschiert und blickten mit starren Augen zur schmalen Öffnung des Tals hinüber – zu den beiden Legenden aus Fleisch und Blut, die sie bewachten.
Sie ignorierten die beiden Streitkräfte aus Menschen, die sich in einiger Entfernung hartnäckig weiter bekämpften. Shub wußte, wo die wirkliche Gefahr lag.
»Bist du es nicht langsam leid, immer recht zu behalten?« fragte Ruby fast wütend. »Das sind keine guten Chancen, Jakob! Wir könnten hier wirklich in Schwierigkeiten geraten.«
»Falls wir die Wahl haben, lebend oder tot gefaßt zu werden, hielte ich es für klug, wenn wir uns für tot entschieden«, sagte Ohnesorg. »Vivisektion macht dem Opfer vermutlich keinen Spaß.«
»Ich bin froh, daß du bei mir bist, um mich auf die heiteren Aspekte hinzuweisen«, sagte Ruby. »Ich vermute, es käme nicht in Frage, wie der Teufel abzuhauen?«
»Leider richtig. Wir müssen standhalten, um Zeit zu schinden. Zeit für Vidars Armee, um die Aufständischen zu besiegen. Zeit bis zur Rückkehr des Sturms. Oder, falls alles andere scheitert, um die Zahl der Geistkrieger soweit zu senken, daß die Stadt eine Chance hat. So oder so, alles hängt von uns ab.«
»Natürlich«, sagte Ruby. »Das tut es immer, nicht wahr?«
»Wir haben noch acht, vielleicht neun Stunden, bis die Wetterflaute vorüber ist«, sagte Ohnesorg gelassen. »So lange könnten wir durchhalten. Danach dürfte es richtig interessant werden. Vergiß, was ich vorher gesagt habe. Sie beschließen vielleicht, uns auf jeden Fall zu schnappen, sei es auch bei Sturm. Sie sind schließlich schon tot. Sie spüren weder den Wind noch die Kälte oder den beißenden Staub. Und Shub ist wirklich ausgesprochen scharf auf uns. Ich frage mich, ob sie deshalb den jungen Jakob Ohnesorg geschickt haben – um als Köder in der uns gestellten Falle zu dienen. Egal. Nein, Ruby, ich denke, wir müssen akzeptieren, daß wir bis zum Ende hier sind. Bis die eine oder die andere Seite nichts mehr zu gewinnen hat.«
»Jetzt mal langsam!« sagte Ruby. »Ich denke, der Vorhang hat sich gerade gehoben.«
Die gesamte Armee aus Geistkriegern strömte über die Ebene in ihre Richtung, während Jung Jakob Ohnesorg auf die Seite getreten war und sie mit aufmunternden Rufen seiner fröhlichen menschlichen Stimme anspornte. Die Toten schwiegen.
Das einzige Geräusch war das Trommeln ihrer toten Füße auf dem harten, unnachgiebigen Boden. Ohnesorg und Ruby packten die Schwerter und hielten sich am Taleingang bereit.
»Falls wir hier fallen…« begann Ohnesorg.
»Ja?« fragte Ruby.
»Zumindest wird es ein guter Tod. Der Tod von Kriegern.«
»Stimmt. Wir wurden nie für die Zivilisation geschaffen, Jakob.«
»Aber falls wir durch irgendein Wunder überleben…«
»Ja?«
»Dann habe ich vor, in Zukunft manches anders anzugehen.
Keine Politik mehr. Keine Kompromisse mehr. Ich folge meinem Herzen und meinem Gewissen, und Gott helfe jedem, der mir dabei in die Quere kommt.«
»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Ruby.
Und dann prallten die ersten Geistkrieger auf sie. Ohnesorg und Ruby standen zusammen und schwangen ihre Schwerter mit übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit, schnitten die Geistkrieger in Stücke und zerlegten die belebten Leichname buchstäblich in ihre Einzelteile, die dann hilflos zu Boden fielen. Rasch wurden die Reste weggezerrt, damit neue Geistkrieger an ihre Stelle treten konnten. Nur fünf oder sechs konnten jeweils ins Tal eindringen, und Ohnesorg und Ruby nahmen es mühelos mit ihnen auf. Zunächst.
Der Kampf ging weiter, aber nach der ersten Stunde wurden Ohnesorg und Ruby langsamer, und ihre Kräfte schwanden.
Keine Pause trat ein, und sie wagten nicht, auch nur einen Schritt weit zurückzuweichen. Allmählich wurde ihre Abwehr immer wieder mal von feindlichen Schwertern durchbrochen, und die Wunden brauchten zunehmend länger, um wieder zu heilen. Es war ein langer und harter Tag gewesen, sogar für zwei lebende Legenden. Sie atmeten ungleichmäßig, und die Luft brannte ihnen in den Lungen. Der Schweiß lief ihnen über die Gesichter, brannte ihnen in den Augen und schmeckte auf den Lippen salzig. Der Boden wurde rutschig von ihrem eigenen Blut. Und immer noch stürmten die Geistkrieger heran, so daß Ohnesorg sich selbst endlich eingestehen mußte, was er von Anfang an gewußt hatte daß zwei Krieger eine Armee zwar eine Zeitlang aufhalten konnten, nicht jedoch endlos.