Der Regen fiel auch auf die unglücklichen Kolonisten dieses Planeten, obwohl Kolonisten vielleicht nicht das richtige Wort war. Sie hatten sich nicht aus freien Stücken hier angesiedelt.
Behandschuhte und behelmte Gestalten hatten sie abgeholt und mit Stromstößen und der Drohung gezogener Schußwaffen in die Laderäume von Frachtschiffen getrieben. Unter schwierigen Bedingungen und voller Verzweiflung reisten sie durch den Weltraum und wurden schließlich in ihrer neuen Heimat abgesetzt, um sich hier ein Leben aufzubauen, so gut sie konnten. Versorgungsschiffe brachten hin und wieder das Allernötigste, aber darin erschöpfte sich auch schon das Mitgefühl des Imperiums. Niemand gab einen Dreck darauf, ob die unfreiwilligen Kolonisten überlebten oder starben, solange sie dort blieben, wohin man sie deportiert hatte. Die Raumfahrt war ihnen verboten, die Zivilisation war ihnen verboten – auf Geheiß einer Menschheit, die ihnen den Rücken zugekehrt hatte. Aber wider alle Erwartungen hatten die Kolonisten überlebt und es sogar auf ihre Art zu etwas gebracht. Sei es auch nur denen zum Trotz, die sie im Stich gelassen hatten. Lachrymae Christi war eine Leprakolonie.
Die Sonnenschreiter II fiel aus dem Hyperraum und sank in eine hohe Umlaufbahn über der Welt der ewigen Tränen. Owen Todtsteltzer saß unbehaglich vor dem Hauptsichtschirm auf der Brücke seiner Jacht und musterte das Bild des schweigenden Planeten, der versteckt unter der unaufhörlich wirbelnden Wolkendecke lag. Owen wußte nicht viel über Lachrymae Christi.
Da ging es ihm wie den meisten anderen. Es war kein respektables Thema, über das man sich unterhielt, als könnte man schon durch Gebrauch des gefürchteten Begriffs die Krankheit auf sich aufmerksam machen. Jahrhundertelang hatte das Imperium geprahlt, seine Wissenschaftler hätten alle Krankheiten besiegt, und mit Hilfe der Regenerationsmaschinen und der Klontanks könnte jede Person, die über ansehnliche Mittel verfügte, ein langes und gesundes Leben erwarten. Für die Armen sah das natürlich anders aus, aber so war es schließlich in allen Dingen. Und dann war vor siebzig Jahren die Lepra zurückgekehrt – ein fast vergessenes Schrecknis aus der fernen Vergangenheit der Menschen –, und die Wissenschaftler zeigten sich hilflos. Die Krankheit breitete sich rasch von einem Planeten zum nächsten aus, infizierte Reiche und Arme gleichermaßen, und bald war sie überall gegenwärtig. Niemand wußte, was sie verursachte und wie sie sich ausbreitete, und so fanden die Opfer weder Hoffnung noch Trost. Nur die Isolation, gemieden von Freunden und Nachbarn. Und damit man die Opfer nicht in der Nähe hatte, eine stete Erinnerung an das Versagen der Wissenschaft, beschloß man, daß alle als befallen diagnostizierten Personen einen Fahrschein ohne Rückfahrt zum Abgrund erhalten sollten, auf einen Planeten, den niemand haben wollte, wo sie unter sich bleiben konnten und der Menschheit Gelegenheit boten, sie behaglich zu vergessen.
Nur daß manche Menschen nicht vergessen konnten, nicht vergessen wollten.
Hazel D’Ark kam auf die Brücke gelatscht und fiel kraftlos auf einen Stuhl neben Owen. Sie finsterte das Bild auf dem Monitor an und schniefte geräuschvoll. »Ich kann nicht glauben, daß du in diesen Einsatz eingewilligt hast, Owen. Ich schwöre dir: Sollte ich mit weniger Fingern, als ich normalerweise habe, wieder von hier abreisen, befördere ich dich persönlich mit einem Dropkick aus der nächsten Luftschleuse.«
»Es besteht wirklich kein Grund zur Besorgnis«, fand Owen und bemühte sich dabei angestrengt um einen beruhigenden Tonfall. »Die aktuellen medizinischen Informationen besagen, daß man sich die Lepra nicht durch üblichen Kontakt zuziehen kann. Ich habe nachgesehen.«
»Das weiß man doch gar nicht! Man weiß überhaupt nichts mit Sicherheit. Man hat noch nicht mal herausgefunden, woher zum Teufel sie stammt.«
»Was genau ist diese Lepra?« erkundigte sich Mitternachtsblau von einer Stelle hinter ihnen. Die große, dunkelhäutige Kriegerin lehnte am Türrahmen und trank einen Vitaminextrakt direkt aus der Flasche. »Woher ich komme, kennen wir nichts dergleichen.«
»Gilt auch für mich«, sagte Bonnie Chaos, schob sich an Mitternacht vorbei und besetzte den einzigen noch freien Sitz auf der Brücke. Ihre diversen Piercing-Schmuckgegenstände klimperten laut, als sie sich setzte. »Hausen da unten wirklich Leute, denen die Einzelteile herunterfallen?«
»Nur in den schlimmsten Fällen«, erläuterte Owen. »Es ist eine neurologische Krankheit. Die Opfer verlieren jedes Tastgefühl. Selbst kleine Verletzungen heilen nicht mehr und infizieren sich. Das Fleisch verfault. Es ist eine langsame und sehr üble Todesart. Ein paar Medikamente helfen, aber nicht sehr.«
»Ist es zu spät, dieses Schiff noch zu wenden?« fragte Bonnie.
»Ich dachte, du hieltest Entstellungen für eine Demonstration von Modebewußtsein«, warf Mitternacht ein.
»Alles hat Grenzen«, fand Bonnie. »Auch wenn ich nicht erwartet hätte, das mal von mir selbst zu hören.« Sie beugte sich zu Owen hinüber, und er gab sich Mühe, nicht zurückzuschrecken. »Weißt du, Owen, diese Krankheit hört sich zu übel an, um wahr zu sein. Handelt es sich nicht vielleicht um eine Biowaffe, die aus dem Labor entwichen ist?«
»Du bist nicht die erste Person, die eine solche Vermutung äußert«, sagte Hazel. »Um die Wahrheit zu sagen: Niemand weiß es. Sie scheint mit keiner anderen heute bekannten Krankheit verwandt zu sein. Vielleicht haben wir es mit der Vorstellung eines verdammten Spinners von einer allerletzten Terrorwaffe zu tun. Das würde erklären, wie sie einfach aus dem Nichts heraus entstehen konnte.«
»Natürlich ist auch möglich, daß diese Überlegung nur Ausdruck eines allgemeinen Verfolgungswahns ist«, gab Owen zu bedenken. »Unter Löwensteins Regiment kursierte reichlich davon.«
»Jawohl«, sagte Hazel. »Vor allem, weil wirklich immer jemand hinter einem her war.«
»Stimmt. Gott sei Dank hat sich das inzwischen geändert.«
Jede Alarmsirene auf der Brücke heulte in diesem Augenblick gleichzeitig los, laut genug, um Tote zu erwecken, und begleitet von Leuchtsignalen. Owen starrte die Steuerungspaneele vor sich ungläubig an.
»Ich glaube es einfach nicht!«
»Was? Was?« fragte Hazel.
»Ein Schiff der Hadenmänner ist gerade neben uns aus dem Hyperraum gekommen! Woher zum Teufel haben sie erfahren, daß wir hierher wollten?«
»Ich sage dir was«, antwortete Hazel und tastete verzweifelt auf der Steuerung herum. »Frage du sie danach, während ich versuche, uns wie der Teufel hier wegzubringen.«
»Ich dachte, sie würden Owen als ihren Erlöser betrachten«, sagte Bonnie.
»Na ja«, versetzte Owen, der damit beschäftigt war, alle Abwehrschirme der Sonnenschreiter II einzuschalten. »Nach den Ereignissen auf Brahmin II können wir wohl beruhigt davon ausgehen, daß dieser spezielle Titel veraltet ist.« Er drückte den Interkom-Schalter. »Mond, bewegt sofort Euren Siliziumarsch auf die Brücke!«
»Ich bin schon da«, ließ sich die kratzende Stimme des aufgerüsteten Mannes vernehmen. Tobias Mond trat neben Owen und betrachtete mit seinen leuchtenden Goldaugen das riesige goldene Schiff auf dem Bildschirm. »Mein Volk hat uns wiedergefunden.«
»Wundervoll«, sagte Owen. »An manchen Tagen würde es nicht mal dann laufen, wenn man dafür bezahlte. Die Kraftfelder stehen, und die Waffenlektronen sind online. Hazel?«