Owen lächelte und winkte wie ein Automat und ging nach besten Kräften auf Distanz zu Lärm und Chaos, indem er sich auf den Bericht konzentrierte, den er dem Parlament vortragen wollte. Vor einer Menschenmenge hatte er sich noch nie wohl gefühlt. Wenn ihn Menschen anstarrten, wurde er nervös und befangen. In seinem früheren Leben hatte er sich einmal vor einer Rede, die er vor einer Versammlung von Geschichtsgelehrten halten sollte, so lange auf der Toilette eingeschlossen, daß man jemanden schickte, der sich erkundigte, ob es ihm auch gutginge. Heute hätte es anders sein sollen. Er war ein Mann mit Macht und Bestimmung. Alle behaupteten es. Er hatte sich den Weg durch ganze imperiale Armeen hindurch freigekämpft und nie einen Augenblick gezögert.
Es machte keinen Unterschied. Er verabscheute es immer noch, wenn man ihn anstarrte.
Ihm half auch nicht, daß Hazel richtig Spaß an der Sache hatte und winkte und lächelte und sich hin und her drehte, damit jeder sie gut zu sehen bekam. Eine ganze Gruppe von Hazel-Doppelgängern sang ihren Namen und kreischte jedesmal ekstatisch, wenn Hazel in ihre Richtung blickte. Einige waren sogar Frauen. Jemand warf ihr eine langstielige Rose zu. Sie fing sie geschickt auf, ohne sich an den Dornen zu stechen, und warf dem Verehrer eine Kußhand zu. Die Menge liebte das.
Owen gab vor, er hätte es nicht bemerkt, während er gleichzeitig mürrisch zur Kenntnis nahm, daß niemand Rosen nach ihm warf. Nicht, daß er sich welche gewünscht hätte! Es ging nur ums Prinzip.
Überall ringsherum ging der Wiederaufbau voran. Häuser, Geschäfte und Büros, die in der letzten großen Schlacht in der Stadt beschädigt oder zerstört worden waren, wurden repariert.
Arbeiter, die in Gravschlaufen hoch an den Gebäudeflanken tätig waren, lehnten sich gefährlich weit aus ihren Geschirren, um Hazel derbe Bemerkungen zuzurufen. Sie schrie noch derbere zurück. Sie liebten es! Kameras zuckten darüber hin und her und rempelten sich gelegentlich im Kampf um die besten Blickwinkel.
Owen lächelte, bis ihm die Kiefer schmerzten – und behielt ständig voller Argwohn die unfertigen Gebäude der Umgebung im Auge, um auf mögliche Heckenschützen zu achten. Die Anbetung der Menge war ja gut und schön, aber vielen Leuten da draußen wäre es nur recht gewesen, Owen und Hazel tot zu sehen, wofür es die verschiedensten Gründe gab. Außerdem konnte ihn die Verherrlichung durch die Menge nicht täuschen.
Er wußte, was teilweise dahintersteckte. Bei so vielen Toten auf beiden Seiten waren zum ersten Mal überhaupt Spenderorgane für jedermann erhältlich. Sogar in Anbetracht langer Wartelisten hatten nun Menschen eine neue Hoffnung, die früher hätten sterben müssen. Und all das wegen der vielen Toten, die auf Owen und Hazel zurückgingen.
Die öffentliche Bewunderung wies auch einen noch dunkleren Aspekt auf. Inspiriert von Owens und Hazels übermenschlichen Fähigkeiten, sahen sich viele Menschen bewegt, sich mit allen erdenklichen Mitteln zu »verbessern«. Diese LabyrinthMöchtegerne stürzten sich auf Blut, Techimplantate und Transplantationschirurgie, mit einer Begeisterung, die ans Makabre grenzte. Owen war nicht damit einverstanden und gab sich Mühe, den Trend im Auge zu behalten. Er hatte die Menschheit nicht vor Imperatorin Löwenstein gerettet, um mitzuerleben, wie sich alle in Miniatur-Hadenmänner verwandelten.
Die Parade schien sich ewig hinzuziehen, aber endlich erreichte sie das jahrhundertealte Bauwerk, das Sitz des Parlaments war. Da seit Jahrhunderten niemand mehr das Parlament ernstgenommen hatte, stand das große eckige Bauwerk heute in einem normalerweise ruhigen Bezirk, an dem die Kämpfe und die allgemeine Zerstörung zum großen Teil vorübergegangen waren. Die hohen Steinmauern waren von dicken Efeumatten überwachsen, die niemand je zu stutzen wagte, weil durchaus die Möglichkeit bestand, daß nur noch der Efeu das alte Mauerwerk zusammenhielt.
Als Owen und Hazel aus dem Gravschlitten stiegen und ins Foyer des alten Bauwerks eilten, traten Soldaten hinzu, um die Menge zurückzuhalten. Die großen Eichentüren schlossen sich nachdrücklich hinter den beiden Helden, und Owen stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Sich dem zweifellos feindselig gestimmten Parlament zu stellen, das bekümmerte ihn nicht annähernd so stark wie eine hysterische Menschenmenge, die brüllte, daß sie ihn liebte und von ihm Kinder haben wollte.
Bereitstehende Diener verneigten sich und führten Owen und Hazel in die große Vorhalle, wo alle, die etwas mit dem Parlament zu besprechen hatten, mit mehr oder weniger viel Geduld darauf warteten, daß die abendliche Plenarsitzung begann. Das Parlament lockte noch mehr Möchtegerne der Macht an als früher Löwensteins Hof nicht zuletzt, weil das Parlament Antragsteller nicht gleich umbrachte, falls es der Meinung war, daß sie dort nichts verloren hatten. Es langweilte sie höchstens zu Tode.
Alle Welt wußte, daß das Parlament die Alltagsgeschäfte des Imperiums mehr oder weniger zufällig geerbt hatte. Alle übrigen in Frage kommenden Instanzen bekämpften sich dermaßen untereinander, daß sie sich wechselseitig neutralisierten. Bislang tat das Parlament seine Arbeit auch nicht schlechter, als von jeder anderen Institution zu erwarten gewesen wäre. Die zweihundertfünfzig Abgeordneten waren von den Bürgern gewählt, die ein jährliches Mindesteinkommen erzielten und mit solchen Dingen behelligt werden konnten, hatten aber seit Jahrhunderten keine echte Macht mehr ausgeübt. Sie reagierten mit unterschiedlicher Begeisterung auf den neuen Status. Manche stürzten sich genußvoll in die Arbeit, entschlossen zu zeigen, was sie konnten, wenn man ihnen nur eine Gelegenheit gab. Andere schreckten merklich schon vor dem Gedanken zurück, tatsächlich für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, und verkrochen sich so tief in ihre Schneckenhäuser, daß man sie mit nichts mehr daraus hervorlocken konnte. Die meisten boten ihre Dienste fröhlich dem Meistbietenden an. Einige gingen dazu sogar an die Börse. Sicherlich herrschte keinerlei Mangel an Organisationen, Fraktionen und mächtigen Einzelpersonen, die Einfluß auf die Abgeordneten zu nehmen versuchten; tatsächlich waren es sogar so viele, daß bewaffnete Posten im und um das Parlament aufziehen mußten, um die Ordnung zu wahren. Besonders bei Haushaltsdebatten.
Außerhalb des Parlaments nahm die Lage inzwischen wirklich gewalttätige Züge an. Diverse Gruppierungen hatten zu spät erkannt, daß sich das Parlament des einzig wichtigen politischen Instrumentariums bemächtigt hatte, und waren dazu übergegangen, ihre Streitigkeiten mit brutaler Gewalt auszutragen. Die Zahl der Toten stieg täglich, während Schwerter, Schußwaffen, Bomben und Gift entschieden, wer aktuell die Oberhand hatte. Die Behörden versuchten inzwischen gar nicht mehr, die Ordnung zu wahren, außer während der Stoßzeiten morgens und abends. Beide Seiten gingen großzügig mit dem Wort Terroristen um, während sie jeweils selbst Greueltaten planten. Owen und Hazel hatten darüber nachgedacht, sich einzumischen und eine Menge Leute umzubringen, bis die anderen endlich begriffen, aber Jakob Ohnesorg hatte es ihnen in aller Stille ausgeredet. Niemand wollte diesen Gruppierungen den einzigen Grund liefern, sich zusammenzuschließen, nämlich die Ermordung von Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark.
Als einzigen echten Konkurrenten des Parlaments in der Funktion einer regierenden Körperschaft konnte man die laufenden Kriegsverbrecherprozesse anführen, die von den Führungspersönlichkeiten der verschiedenen Untergrundbewegungen geleitet wurden. Unter Löwensteins korrupter Herrschaft waren Greueltaten jeder Art alltäglich geworden. Leute verschwanden einfach aus einem beliebigen oder gar keinem Grund und tauchten nie wieder auf. Folter und Mord waren unter der Eisernen Hexe alltägliche Aufgaben der Staatspolitik.