»Und Ihr entscheidet, wer schuldig ist.«
»Das Parlament entscheidet.«
»Und Ihr sprecht für das Parlament«, sagte Owen. »Wie durch und durch passend.«
»Fahren wir lieber fort«, sagte Gutmann. »Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist ein Vorschlag, der, so denke ich, eine lebhafte Debatte garantiert. Sicherlich brauche ich die meisten von Euch nicht daran zu erinnern, daß sich einige Abgeordnetensitze in Kürze den ersten freien Wahlen seit dem Sturz des Eisernen Throns stellen müssen. Was Ihr vielleicht noch nicht wißt, ist die Tatsache, daß viele ehemalige Aristokraten ihre Absicht verkündet haben, für etliche dieser Sitze zu kandidieren.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage!« warf Owen ein, und seine Stimme durchschnitt scharf das ansteigende Gemurmel ringsherum. »Ohnesorgs Abkommen ist eindeutig: Die Familien treten die politische Macht ab, um als finanzielle Institutionen fortbestehen zu dürfen. Duldet man sie erst im Parlament, höchstwahrscheinlich durch Bestechung und Einschüchterung, werden sie letztlich wieder alles in der Hand haben!«
»Ihr müßt wirklich noch lernen, Euren Verfolgungswahn zu beherrschen, Sir Todtsteltzer«, sagte eine frostige Stimme, und alle drehten sich um. Grace Shreck begegnete dem kollektiven Blick mit einem Ausdruck kühler Gleichgültigkeit und hielt die Nase beharrlich hochgereckt. Seit Gregors erzwungenem Rückzug aus der Öffentlichkeit übte seine ältere Schwester das Amt des Familienoberhauptes aus und leistete darin zu aller Welt Überraschung ausgezeichnete Arbeit. Toby und Evangeline waren beide zu beschäftigt und zu wenig motiviert gewesen, um die Funktion des Shrecks zu übernehmen, also war sie automatisch an Grace gefallen. Die Zeit im Rampenlicht schien ihr zu bekommen.
Grace gab ein eindrucksvolles Bild ab inmitten der farbenprächtigeren Raubvögel ringsherum – lang, groß, mehr als nur modisch dünn, mit bleichem Schwanenhals, abgehärmtem Gesicht und einer gewaltigen Masse weißen Haares, das sie in einem altmodischen und eindeutig prekär wirkenden Stil hochgesteckt trug. Die sehr alte und asketische Grace war seit Jahren nicht mehr regelmäßig in der Öffentlichkeit aufgetreten.
Sie hatte es verabscheut, bei Hofe zu erscheinen, und hatte es nur getan, wenn Gregor sie regelrecht zwang.
Im weniger förmlichen und unendlich weniger gefährlichen Parlament zu erscheinen, das hatte sie sich jedoch mit verblüffender Leichtigkeit angewöhnt. Inzwischen trat sie hier als Sprecherin vieler älterer Familien auf, die ihr genau deshalb vertrauten, weil sie so lange auf Distanz geblieben war und daher keine besonderen Verpflichtungen gegenüber einem besonderen Clan oder einer bestimmten Sache verspürte. Sie trug Kleider, die so altmodisch waren, daß sie schon wieder modisch wirkten, und zeichnete sich durch eine ruhige Haltung und eine spröde Schlagfertigkeit aus, die ihr vielerorts Respekt einbrachten. Das Holopublikum bewunderte sie als das annehmbare Gesicht der ehemaligen Aristokraten, und es hörte sich von ihr Argumente an, die es von Seiten eines anderen Aristos niedergebrüllt hätte.
»Jeder hat das Recht, für das Parlament zu kandidieren«, sagte Grace geziert. »Ein demokratisches Recht. Gehört das nicht zu den Idealen, für die Ihr zu kämpfen vorgabt, Sir Todtsteltzer? Daß alle gleich behandelt werden sollten? Ehemalige Aristokraten haben das gleiche Recht, Gehör zu finden, wie alle anderen auch. Schließlich wart Ihr selbst ein Lord. Möchtet Ihr sagen, daß man auch Euch bannen und Eure Stimme nicht mehr beachten sollte? Ihr seid nicht das einzige Mitglied einer Adelsfamilie, das die Vorstellungen des Ausgleichs und der Sühne versteht.«
Owen sah finster drein. »Ich hätte die Macht übernehmen können. Ich habe mich dagegen entschieden.«
»Wie außerordentlich… edel von Euch. Aber wer könnte sagen, ob Ihr es Euch in Zukunft nicht anders überlegt? Ich sehe wirklich nicht ein, was das ganze Theater soll. Wir sprechen von freien Wahlen, abgehalten unter Schutzvorkehrungen, die zu entwickeln Ihr selbst beigetragen habt – so daß jeder nach seinem Gewissen wählen kann. Sollten sich manche entscheiden, einem Aristokraten ihr Vertrauen zu schenken, ist das ihre Sache und geht sonst niemanden etwas an.«
»So einfach ist das nicht, und Ihr wißt es.« Diana Vertue funkelte Grace Shreck über das Parkett des Plenarsaals hinweg an. Grace erwiderte ihren Blick mit herablassendem Lächeln.
Dianas finstere Miene vertiefte sich, aber sie wahrte die Fassung. »Die Esper liefern sich nie mehr denen aus, die sie früher als Eigentum behandelten. Die sie nach Belieben mißhandelten und ermordeten.«
»Wir bedauern die Ausschreitungen der Vergangenheit zutiefst«, erklärte Grace gelassen. »Alle Familien begreifen, daß sie ihren Wert und ihre Stellung in der neuen Ordnung unter Beweis stellen müssen. Niemand von uns ist so dumm, diese Stellung aufs Spiel zu setzen, indem er eine alte und diskreditierte Praxis wiederaufnimmt. Wir alle müssen lernen, in die Zukunft zu blicken. Die Familien haben viel zu bieten. Jeder hier hat Verständnis für die körperlichen und geistigen Narben, die Ihr durch schreckliche Vorfälle erlitten habt, Esper Vertue, aber wir können nicht dulden, daß die Besessenheit einer einzelnen Frau dem Fortschritt im Weg steht.«
Diana wahrte grimmig die Fassung. Es geschah nicht zum ersten Mal, daß Grace versuchte, Dianas Argumente aus dem Feld zu schlagen, indem sie auf ihre Vergangenheit als Johana Wahn anspielte, deren geistige Stabilität… Schwankungen unterlegen war. Diana konnte nicht direkt auf die Anschuldigungen antworten (Ein Satz wie In Ordnung, ich war damals verrückt, aber heute weiß ich es besser hätte nicht gerade Vertrauen erzeugt), also reagierte sie wie immer, überging die Beleidigung und drängte weiter.
»Die Esper werden sich nie wieder der Aristokratie beugen.
Durch Blut und Leid und die Opferung vieler konnten wir unsere Ketten sprengen; wir lassen sie uns nicht noch einmal anlegen.«
»Eine hübsche Rhetorik«, fand Grace, »aber im wesentlichen inhaltslos. Dieses Gerede von Herren und Sklaven gehört der Vergangenheit an; soll es dort begraben bleiben. Wir anderen sind weitergezogen. Und wie ich schon früher vor diesem Hohen Haus festgestellt habe, bestreite ich Euren Anspruch, für alle Esper zu sprechen. Ihr habt Euch selbst von der offiziellen Untergrundführung distanziert, als Ihr offen Euer Mißtrauen gegen die Weltenmutter ausspracht, und Euer Gefolge an der Basis ist auch nicht mehr, was es mal war. Heute sprecht Ihr nur noch für Euch selbst, Esper Vertue.«
»Dann unterhalten wir uns doch über den Schwarzen Block«, schlug Finlay Feldglöck vor, und alle Köpfe im Saal fuhren zu ihm herum. Finlay sprach nicht oft im Parlament, aber wenn er es tat, hörte ihm jeder zu. Die Flugkameras in der Luft beeilten sich, sich auf ihn einzustellen. Finlay bedachte SB Chojiro und ihre Leute mit einem kalten Lächeln. »Wie können wir den Familien Vertrauen schenken, solange die meisten noch unter dem Einfluß einer früher geheimen Organisation stehen, des Schwarzen Blocks? Deren Zielsetzungen und Herkunft liegen immer noch weitgehend im Dunkeln.«
SB Chojiro trat vor, und ihre Stimme erklang süß in der Stille. »Die Tatsache, daß wir nicht mehr im Geheimen arbeiten, sollte die meisten Befürchtungen dieser Art gegenstandslos machen. Ja, wir wurden als persönliche Assassinen der Clans ins Leben gerufen, als Agenten des Todes für ihre Feinde, aber darüber haben wir uns hinausentwickelt. Und was ausgerechnet Euch angeht – Ihr habt kein Recht, uns zu kritisieren. Wieviel Blut klebt an Euren Händen, Sir Feldglöck? Wie viele sind unter Eurem Schwert gefallen?«
»Scheinbar nicht genug«, versetzte Finlay, und alle erschauerten über die Kälte, mit der er das sagte.
»Ich denke, wir haben diesen Streit so weit ausgetragen, wie für den Moment möglich ist«, mischte sich Gutmann ein. »Machen wir weiter, bitte. Wir haben eine Holonachricht von Ihrer Heiligkeit, der Obersten Mutter Beatrice Cristiana, erhalten.