»Der Anzug versorgt Euch mit Luft, solange Ihr sie braucht«, erklärte die Stimme. »Außerhalb weniger spezieller Räume bietet Shub keine Luft. Sie würde nur den Rost fördern. Seid Euch auch darüber im klaren, daß Schwerkraft, Druck und Strahlung schwanken, je nachdem, welche Werte wir benötigen. Wir machen keine Zugeständnisse an die Schwächen des Fleisches. Der Anzug wird Euch schützen. Folgt dem markierten Weg. Weicht nicht davon ab, oder Ihr werdet bestraft.«
Ein weitere Tür öffnete sich in der Wand links von Daniel. Er ging hinüber und hielt sich dabei aufrecht. Er war entschlossen, seinen Stolz und seine Würde zu wahren, selbst wenn er in dem durchsichtigen Anzug splitternackt war.
Hinter der Tür erwartete ihn ein glänzender Stahlkorridor.
Beleuchtete Bodensegmente gaben ihm Licht in dem schmalen Gang, in dem er leicht gebückt ging, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen. Der Tunnel lief immer weiter, und die ständig gebückte Haltung erzeugte wachsende Schmerzen in Daniels Rücken. Er hätte sich gern ausgeruht, rechnete aber stark damit, daß man es ihm nicht gestatten würde, und außerdem wollte er so frühzeitig noch keine Schwäche einräumen. Er fühlte sich sehr erleichtert, als der Tunnel plötzlich in einen riesigen metallenen Raum mündete und er sich endlich wieder aufrichten konnte. Die Wände waren von hellem Stahlblau, und der Raum war mehrere hundert Fuß hoch. Gewaltige Maschinen erfüllten den riesigen Raum und ragten turmhoch über Daniel auf. Von der Form her ergaben sie für Daniel keinen Sinn, und er fand keinen Ansatz, um aus ihnen schlau zu werden. Ihre schiere Größe schüchterte ihn ein, und er kam sich wie ein kleines Kind vor, das unerwartet in die Welt der Erwachsenen geraten war.
Langsam schritt er durch die Halle, folgte dem von den Leuchtsegmenten gewiesenen Weg und wich dabei den Maschinen so weiträumig aus, wie es nur ging. Menschen hatten noch nie so riesige Maschinen gebaut – größer als Häuser, gewaltiger noch als Sternenschiffe, stählerne Berge mit leuchtenden Fenstern und auf- und zugehenden Mündern. Aber Shub baute nicht nach menschlichem Maßstab. Das brauchten die KIs auch nicht.
Daniel ging langsam weiter, vorbei an zimmergroßen Teilen, die sich bewegten, die endlos aneinanderknallten, ohne daß erkennbare Schäden oder Ergebnisse eintraten. Der Lärm war ohrenbetäubend, obwohl der Anzug anscheinend das meiste herausfilterte. Trotzdem litt Daniel an hämmernden Kopfschmerzen, als er die Halle verließ. Er stieß auf eine scheinbar endlose Metalltreppe, deren Stufen über sechzig Zentimeter hoch und neunzig Zentimeter lang waren, so daß er sich Stufe für Stufe hinaufschleppen mußte. Es war harte Arbeit, und trotz seiner Kondition lief bald der Schweiß in Strömen. Nach endloser Zeit verhüllten dahintreibende blutrote Wolken die Stufen vor ihm. Daniel wußte nicht recht, ob es den Anstieg erleichterte, daß er nun nicht mehr erkennen konnte, wie weit der Weg noch war. Als er den blutroten Nebel endlich hinter sich hatte und einen weiteren Stahlkorridor vor sich sah, schmerzten ihn alle Muskeln, und er rang nach Luft. Unerbittlich führten ihn die Lichter weiter, aber als Wolf kapitulierte er nicht so leicht.
Er traf auf runde Hallen und eckige, auf Gewölbe aus schimmerndem Metall, durch die Flüsse aus dampfenden, giftigen Chemikalien liefen. Ultra- und Infraschallfrequenzen erschütterten Daniel von Zeit zu Zeit bis in Zähne und Knochen.
Lichter und Farben tauchten auf und verschwanden wieder, manchmal in Schattierungen, die er nicht benennen konnte, und ihm war ohne erkennbaren Grund nach Weinen oder Lachen zumute. Und überall arbeiteten fremdartige Maschinen, große und kleine und mittlere, auf unbekannte Ziele hin. Daniel durchwanderte das alles wie eine Ratte in einem elektronischen Labyrinth, erschöpft und mit Schmerzen in allen Gliedmaßen, aber weitergetrieben von der Hoffnung, daß ihm irgendwo und irgendwann gestattet sein würde, seinem Vater zu begegnen.
Endlich erreichte er sein Ziel, oder die KIs wurden es müde, ihn im Kreis herumlaufen zu lassen. Die Lichter im Boden führten ihn in einen Saal, der nach menschlichen Begriffen groß war, ihm aber behaglich erschien nach den riesigen Metallhöhlen, die er durchschritten hatte. Dicke gerippte Kabel, von denen Öl tropfte, bedeckten die Wände, in komplexen Mustern miteinander verwoben. Gelegentlich rührten sich einzelne Kabel wie träumende Schlangen. Eine Ehrengarde aus Furien, die in ihren nackten Metallchassis hell schimmerten, bildete in Habachtstellung eine Doppelreihe, die er durchschreiten mußte.
Daniel tat es erhobenen Hauptes und zählte sie verstohlen, bis die Zahl zu groß wurde und er aufgab. Ihm wurde klar, daß ihn jemand am Ende der Formation erwartete. Er wäre ja losgerannt, um ihn zu begrüßen, hatte aber nicht mehr die Kraft dafür, also schleppte er sich einfach weiter, bis er schließlich zwischen den letzten Furien schwankend stehenbleiben und die wartende Gestalt seines toten Vaters Jakob Wolf anlächeln konnte.
Jakob hatte bei seinem Überraschungsauftritt als Geistkrieger an Löwensteins Hof nicht allzu gut ausgesehen, aber jetzt war es noch schlimmer. Er war nackt wie sein Sohn und machte den Fakten alle Ehre – eine Leiche, die von konservierenden Chemikalien und High-Tech-Implantaten zusammengehalten wurde. Die Haut war größtenteils leichenblaß, mit einigen Purpurflecken, aufgesprungen und verfault und zusammengehalten von Metallklammern, die rings um vorstehende Metallverstärkungen angeordnet waren. Braun verfärbte Knochen und grau verfärbte Muskeln waren durch Risse in Haut und Fleisch erkennbar. Die Lippen waren farblos, die Augen gelb wie Urin.
Jakob Wolf lächelte seinen Sohn an, und die Haut spannte sich und riß um die Lippen auf. Die Zähne waren dunkelgelb. Shub hatte ihn nach dem Tod bewahrt, zeigte sich aber an kosmetischen Reparaturen desinteressiert. Oder vielleicht hatten sie ihn absichtlich in diesem Zustand belassen, damit er umso mehr Entsetzen und Widerwillen bei denen auslöste, die ihn erblickten. Die KIs begriffen menschliche Psychologie nicht annähernd so gut, wie sie dachten, aber sie experimentierten nun einmal so gern.
»Hallo Vater«, sagte Daniel. »Ich bin weit gereist, um dich zu sehen.«
»Hast ja lange genug gebraucht«, sagte Jakob. »Aber andererseits bis du schon immer zu spät zu allem gekommen, was wichtig ist.« Daniel streckte die Arme aus, um den Vater zu umarmen, aber Jakob hob eine Hand und schüttelte den Kopf.
»Lieber nicht, Junge. Ich bin gebrechlich.«
Daniel ruckte und ließ die Arme wieder müde an den Seiten hängen. »Wie geht es dir, Vater?«
Die toten Lippen lächelten wieder. »Den Umständen entsprechend gut. Komm jetzt mit. Ich habe dir solche Wunder zu zeigen!«
Und er wandte sich um und latschte schwankend davon, als die Metallimplantate den verwesenden Leib bewegten. Daniel lief ihm nach, so rasch er konnte. »Aber… Vater, wir müssen miteinander reden! Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, und ich muß dir einiges erzählen.«
»Später«, sagte Jakob, ohne sich umzudrehen. »Später bleibt noch Zeit für vieles. Zunächst mußt du einige Dinge zu sehen bekommen. Die KIs verlangen es.«
»Werde ich ihnen wirklich begegnen?« fragte Daniel. »Ich denke nicht, daß irgend jemand im Menschenraum irgendeine Vorstellung hat, wie sie wirklich aussehen.«
Der tote Mann lachte kurz, ein rauher, kratzender Laut. »Du spazierst schon seit einiger Zeit durch sie hindurch. Die KIs sind mit ihrer Welt identisch; Shub ist ihr Körper. Und sie leben auch in jedem Teil dieses Planeten, den sie von hier fortschicken. Sie existieren in jeder Maschine, jedem Roboter, jedem Geistkrieger. Sogar du müßtest wissen, daß Lektronen fähig sind, eine fast unendliche Zahl von Berechnungen gleichzeitig durchzuführen. Ihr Bewußtsein weiß nichts von Beschränkungen, wie sie Menschen eigen sind. Wo immer Erweiterungen existieren, bis in den kleinsten Teil der Shub-Tech, sind auch die KIs. Sag mir, Junge: Was weißt du wirklich über die abtrünnigen KIs? Was weißt du und vermutest du nicht nur?«