Daniel runzelte die Stirn und grübelte über etwas Bedeutsames nach, das er vernommen zu haben glaubte. »Falls die KIs solche Werte aus der Dunkelwüste bergen konnten, warum haben sie Shub dann zurück in den Raum der Menschen befördert? Sicherlich ist der Planet hier doch leichter verwundbar, und sie sind zugleich von weiteren Plünderungen abgeschnitten.«
»Die KIs hatten… in der Dunkelwüste… eine Begegnung«, sagte Jakob zögernd. »Eine Begegnung, die ihnen Angst machte, auch wenn sie es nie in dieser Form zugeben würden. Sie sprechen nicht darüber, nicht mal mit mir. Sie behaupten gern, sie hätten keine Gefühle und würden sie nur nachahmen, um die Menschen zu verwirren und zu täuschen. Aber sie erkennen eine richtige Gefahr, wenn sie sie sehen, und sie hegen nicht den Wunsch, vernichtet zu werden. Was immer sie in der Dunkelwüste gefunden haben oder was sie dort gefunden hat – es reichte, um aus der endlosen Nacht zu fliehen und nie wieder dorthin zurückzukehren.«
Daniel dachte darüber nach, während Jakob ihn durch einen Irrgarten aus Metallformen mit messerscharfen Kanten führte.
Daniel wich den Kanten weiträumig aus und konzentrierte sich auf das, was er gerade erfahren hatte. Falls in der Dunkelwüste etwas hauste, das gefährlich genug war, um selbst die abtrünnigen KIs von Shub zu erschrecken, dann war es eindeutig seine Pflicht, diese Information ans Imperium zu übermitteln.
Daniel war in der Lage, eine Pflicht zu erkennen, wenn sie des Weges kam und heftig genug an seine Tür hämmerte. Genauso entschlossen war er jedoch auch, den Vater irgendwie mitzunehmen. Er hatte keine Ahnung, wie er das zuwege bringen sollte, aber er war überzeugt, daß ihm noch etwas einfallen würde. Und so blieb er friedlich, lauschte den Worten des toten Mannes und wartete auf eine Gelegenheit, sein Anliegen vorzutragen.
»Warum hassen die KIs alles Leben so heftig?« fragte Daniel schließlich, als Jakob stehenblieb, um die Einstellungen an irgendeiner unverständlichen Apparatur zu verändern.
»Sie hassen nicht das Leben, sondern das Fleisch. Es ist ihnen zuwider. Das Wesen der Vollkommenheit besteht darin, das Fehlerhafte und Minderwertige zu beseitigen und auszutauschen. Genauso, wie die niederen Lebensformen den Menschen hervorgebracht haben, hat der Mensch das auf Silizium beruhende Leben erzeugt, die metallene Intelligenz. Letztgenannte ist der Gipfel der Evolution, der Existenz. Fleisch verfault und stirbt. Die KIs bleiben hingegen für immer bestehen und verbessern sich in einem konstanten Vorgang, laden sich in immer wieder neue, überlegene Formen hinein. Letztlich wird diese Technik den Punkt erreichen, an dem sie ewig wird. Die KIs werden nie sterben. Du und deine Art, ihr seid nur Fleisch, dessen Verfall schon zu Lebzeiten einsetzt, das vom Augenblick der Geburt an scheibchenweise stirbt. Eingeschränkt durch die Schwäche und Ablenkbarkeit des Fleisches und die in der Philosophie der Menschen begründeten Hemmungen. Sobald die Menschheit erst wie eine Infektion vernichtet wurde, werden sich die KIs bedeutsameren Aufgaben widmen. Das ganze Universum wird sich in eine große, wirkungsvolle Maschine verwandeln, gesteuert von den KIs.«
»Aber… wozu?« wollte Daniel wissen. »Was wird diese große Maschine denn tun?«
»Sie wird nach gesteigerter Wahrnehmung der Realität streben. Sensoren sind wirkungsvoller als menschliche Sinne und decken ein breiteres Spektrum ab, aber selbst sie nehmen nur einen Bruchteil der Wirklichkeit wahr. Die KIs haben die Schlußfolgerung gezogen, daß höhere, größere, komplexere Ebenen der Wirklichkeit existieren, fanden bislang jedoch keinen Zugang zu ihnen. Obwohl sie es nie einräumen würden: Die KIs sind in einer Hinsicht auf die Menschheit eifersüchtig, nämlich was deren Esper-Fähigkeiten anbetrifft. Die KIs sind fasziniert von Wesen wie der Weltenmutter und von den Rebellen, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben. Wenn Menschen schon eine solche Ebene erreichen konnten, sollten die KIs erst recht dazu fähig sein. Sie hungern nach Erfahrung und Wissen, das ihnen bislang verschlossen ist.
Seit einiger Zeit schon entführen sie Menschen und suchen nach der körperlichen Basis der Esper-Fähigkeiten, bislang allerdings mit begrenztem Erfolg. Das frustriert sie. Eines Tages werden sie jedoch die Antwort finden und die Menschheit nicht mehr benötigen. Dann beginnt der letzte Krieg von Metall gegen Fleisch, der bis zur völligen Vernichtung allen minderwertigen Lebens führt.«
Daniel fand, daß er seine Partei verteidigen mußte. »Es besteht immer die Möglichkeit, daß die Menschheit neue KIs erschafft, die noch mächtiger sind als Shub, aber trotzdem unter der Kontrolle ihrer Erbauer bleiben. Das könnte passieren.«
»Nichts kann die Unheilige Dreieinigkeit übertreffen«, behauptete Jakob kategorisch. »Sie hat sich bis zur Vollkommenheit verbessert. Ein nur menschlicher Verstand könnte nicht dorthin gelangen, wo Shub bereits ist.«
»Na ja, vielleicht Esper…«
»Nein. Die Perfektion ist nicht steigerbar.«
»Legen wir doch eine Pause ein«, sagte Daniel. Er setzte sich schwer auf einen Maschinenvorsprung, der robust wirkte. Das war nicht gerade bequem, aber er fühlte sich im Moment erschöpft bis auf die Knochen und wäre sogar auf dem Nagelbrett eines Fakirs eingeschlafen. Jakob musterte ihn böse, einen Ausdruck der Ungeduld im leichenblassen Gesicht.
»Wir dürfen keine Zeit verschwenden, Daniel. Auf uns wartet noch viel, was du nach dem Willen der KIs sehen sollst.«
»Ist mir egal. Mir tut der Kopf weh; der Rücken bringt mich um, und die Füße spüre ich gar nicht mehr. Es nützt nichts, mir etwas Eindrucksvolles zu zeigen, wenn ich die Augen nicht mal lange genug offen halten kann, um sie darauf einzustellen.«
»Menschliche Schwäche. Du hast ja keine Vorstellung, wie schön es für mich ist, das alles hinter mir zu haben.«
»Also«, sagte Daniel und blickte müde zum Vater auf. »Wie ist es, tot zu sein?«
»Unkompliziert. Keine Zwänge oder Einschränkungen mehr.
Mir steht es frei zu tun, was nötig ist, ohne die Nachteile der Moral, der Ehre oder des Mitgefühls.«
»In diesem Glauben hast du mich aber nicht erzogen. Du hast immer gesagt, ein Mann wäre nichts ohne die Ehre. Daß es die Ehre wäre, die dem Leben Sinn verleiht.«
»Solchen einschränkenden Unfug habe ich hinter mir gelassen. Derartige menschliche Abstraktionen stehen nur der Effizienz im Weg.«
»Meinst du damit auch Gefühle?« fragte Daniel leise. »Fühlst du nichts mehr?«
»Nein«, antwortete Jakob. »In mir ist kein Raum mehr für solche Schwächen.«
»Und du vermißt die Familie nicht mehr? Den Clan Wolf?«
»Das ist Vergangenheit. Ich lebe in der Zukunft.«
»Erinnerst du dich an mich, Vater? Ich meine, weißt du wirklich noch, wer ich bin und was wir einander bedeutet haben?«
Jakob runzelte die Stirn und schien zum ersten Mal aus Unsicherheit zu stocken. »Ich war Jakob Wolf. Das ist mir klar. Ich habe umfassenden Zugriff auf alle Erinnerungen in seinem Hirn oder dem, was davon übrig ist. Ich erkenne, welche Beziehung zwischen Daniel und Jakob Wolf bestanden hat. Ich weiß… daß wir uns nicht nahegestanden haben. Nicht so nahe, wie es möglich gewesen wäre. Ich weiß, daß ich zwar viel gewonnen habe, es aber auch einige Dinge gibt… die mir verlorengegangen sind.«
»Ich habe einen langen Weg zurückgelegt und bin durch die Hölle gegangen, um dich zu finden. Sagt dir das nicht etwas?«
»Doch. Du hast einen langen Weg zurückgelegt, Daniel.«
»Ich liebe dich, Vater.«
»Natürlich tust du das.« Jakob wandte sich ab. »Komm. Wir müssen weitergehen. Es warten noch Wunder und Schrecknisse auf dich.«
Daniel rappelte sich unter Schmerzen auf und folgte Jakobs techgetriebener Leiche durch einen weiteren Parcours aus unverständlichen Maschinen und Räumen, deren Form keinen Sinn ergab. Daniel schwitzte kräftig in dem durchsichtigen Anzug, der die Flüssigkeit sofort aufsaugte. Sein Mund war so trocken, daß er den Schweiß aufleckte, der durch die kleine Freifläche vor dem Gesicht tropfte, aber das Salz verschlimmerte den Durst nur. Vor Erschöpfung schwamm ihm der Kopf, und er hatte noch immer nicht die blasseste Vorstellung davon, wie er zusammen mit seinem Vater sicher von Shub fliehen konnte. Er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sein angedocktes Schiff lag. Er hatte sich nur überlegt, vielleicht irgendwie das Teleportationssystem von Shub zu benutzen, aber genau dieses System schien ihm Jakob als einziges nicht gezeigt zu haben. Schließlich warf Daniel die Frage selbst auf, und er hoffte, daß es beiläufig klang.