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»Die wieder mal aufgetaucht ist, als sie gebraucht wurde. Nur ein neuer Aspekt, in dem wir keine Menschen mehr sind.«

»Fang nicht wieder damit an!« knurrte Hazel. »Es ist die erste wirklich praktische Veränderung, mit der das Labyrinth bislang aufgewartet hat. Geh weiter. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Sie folgten erneut dem Tunnel. Owen bemühte sich eine Zeitlang, flacher zu atmen, gab es aber wieder auf, weil es ohnehin längst zu spät dafür war. Der restliche Marsch verlief meist ereignislos, bis sie den Zugang zur Hauptanlage erreichten und den Weg durch einen massiven Stahlverschluß blockiert fanden – eine einzelne, große Platte aus schwerem Stahl, die den Tunnel komplett absperrte und sich selbst Owens und Hazels kombinierter Kraftanstrengung widersetzte. Beide traten sie einen Schritt zurück und dachten über das Problem nach.

»Das sollte sich nur in Notfällen schließen«, erklärte Hazel, »um eine Überflutung der Hauptanlage zu verhindern. Das Schloß ist mechanisch, weil sich Elektronik und Wasser nicht gut vertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dieses Schloß ohne eine ganz spezielle schwere Ausrüstung zu knacken.«

»Die Hadenmänner haben hier dichtgemacht«, sagte Oz.

»Wahrscheinlich, um Leute wie uns auszusperren. Da das Schloß nicht elektronisch ist, kann ich Euch auch nicht helfen.

Und die noch schlechtere Nachricht lautet: Es scheint eine manuelle Überbrückung zu geben, aber man braucht vier Leute, die sie simultan bedienen. Wieder mal eine Sicherheitsvorkehrung.«

Owen und Hazel überprüften die vier Handsteuerungen, einfache Räder an den vier Ecken der Platte – aber so sehr sie sich auch reckten, sie konnten mit den Händen nicht mal annähernd mehr als ein Rad gleichzeitig erreichen. Man brauchte vier Personen dafür. Hazel versetzte dem Siegel angewidert einen Tritt und erzeugte eine kleine Delle im Metall.

»Verdammtes Scheißding! Ich bin doch nicht den ganzen Weg gekommen, um dann von einem blöden Klumpen Stahl aufgehalten zu werden! Tritt mal zurück, ich ballere das Mistding weg.«

»Man braucht eine Disruptorkanone, um etwas so Großes zu durchschlagen«, sagte Owen. »Und wir dürfen die Alarmvorrichtungen nicht vergessen…«

»Ich bin es allmählich echt leid, das Wort Alarm zu hören!

Ich wate nicht den ganzen Weg durch die Abwasserkanäle zurück, Owen. Entweder denkst du dir etwas aus, oder ich puste die Tür weg und riskiere es einfach.«

»In Ordnung, ich habe eine Idee«, sagte Owen. »Wir haben durch eine Feineinstellung meiner Fähigkeit die Turbine überwunden. Wie wäre es, wenn wir hier Eure Fähigkeit nutzten?«

Hazel musterte ihn. »Erkläre mir das. Wie könnte uns meine Kraft hier helfen?«

»Na ja, Ihr könnt eine Armee anderer Versionen Eurer Selbst beschwören, damit sie Euch im Kampf unterstützen. Vielleicht schafft Ihr es, wenn Ihr Euch stark genug konzentriert, nur zwei herbeizurufen und sie lange genug festzuhalten, damit sie die beiden übrigen Räder drehen.«

»Verdammt!« sagte Hazel. »Das ist ja richtig brillant! Ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe. Ich weiß zwar noch nicht, ob es auch funktioniert, aber es ist sicherlich einen Versuch wert.«

Hazel betrachtete die Tür für geraume Zeit mit finsterer Miene. Wie bei Owen tauchte die besondere Kraft gewöhnlich nur unter großem Streß auf. Wenn sie in der Hitze der Schlacht die alternativen Versionen ihrer selbst benötigte, waren sie einfach da. Hazel hatte keine Ahnung, warum bestimmte Versionen häufiger auftauchten als andere, und sie wußte auch überhaupt nicht, welcher Art diese Erscheinungen waren. Die klügste Spekulation schien ihr, daß es sich um Versionen ihrer selbst von anderen Zeitschienen handelte, daß es Personen waren, zu denen sie sich hätte entwickeln können, wäre die Geschichte anders verlaufen – aber sie hatte keinen Beweis dafür. Keine der Versionen war jemals lange genug verweilt, um Fragen zu beantworten. Genauso war möglich, daß all die anderen Hazels nur Hirngespinste darstellten, die durch ihre Labyrinth-Kraft irgendwie mit Leben und Substanz ausgestattet wurden. Das ergab genausoviel Sinn.

Je mehr sie darüber nachdachte und sich bemühte, das Gefühl wiederzubeleben, das sie in diesen vergangenen Schlachten empfunden hatte, desto mehr schien ihr, daß da eine Richtung war, in die sie greifen konnte, eine Richtung, so wirklich wie jede andere, aber nicht beschränkt auf die Welt, in der Hazel lebte. Sie griff hinaus, und unzählige Geister mit ihrem Gesicht schienen ihre Präsenz zu spüren und wandten sich ihr zu. Sie konzentrierte sich darauf, daß sie nur zwei Personen benötigte, und zwei Hände streckten sich ihr entgegen und ergriffen ihre Hände. Ein kurzer Stoß verdrängter Luft zuckte durch den Tunnel, und auf einmal standen zwei weitere Frauen neben ihr und husteten kräftig in der grünlich schimmernden Luft. Hazel warf Owen einen triumphierenden Blick zu und stellte dabei fest, daß ihm die Kinnlade bis fast auf die Knie herunterhing.

Hazel runzelte die Stirn und blickte die beiden fremden Versionen ihrer selbst an, die sie herbeigerufen hatte.

Die Frau zur Linken hatte eine so schwarze Haut, daß sie wie ein lebender Schatten wirkte, und das Haar hing ihr in Rastalocken mit eingeflochtenen Perlen bis auf die Schultern. Sie trug eine silbern glänzende Rüstung, mit prachtvollen Runen ziseliert, und dazu goldene Accessoires wie Knieschoner, Ellbogenschoner und Schlagringe. An jeder Hüfte trug sie eine Pistole, und sie hielt eine Axt mit kurzem Griff in den Händen.

Die Frau war groß, fast unerträglich sinnlich und wirkte vom Scheitel bis zur Sohle wie eine stolze, fähige Kriegerin. Und doch lag etwas in ihrer Haltung, in ihrem Gesicht, in den Zügen um Augen und Mund, das unbestreitbar Hazel D’Ark war.

Die Frau zur Rechten hatte eine totenbleiche Hautfarbe und sah in dem grünlichen Licht einer Leiche nicht unähnlich, die sich halb einbalsamiert vom Leichentisch erhoben hatte. Sie trug fetzenweise Leder, dessen Stücke von hell polierten Stahlketten zusammengehalten wurden. Sie hatte Ringe in Ohren und Nase und an anderen, weniger bequemen Stellen, und darüber hinaus prangte ihr Körper an allen anderen Stellen mit Ziernägeln, Nadeln und anderen Piercing-Schmuckstücken. Sie war dünn wie eine Peitschenschnur. Jeder Muskel trat deutlich hervor, und den Schädel trug sie rasiert, damit die in ordentlichen Reihen aufgenieteten Ziernägel besser zur Geltung kamen. Sie trug ein langes Schwert an einer Hüfte und ein unbekanntes Pistolenmodell an der anderen. Beide Waffen erweckten den Anschein häufiger Benutzung. Und wieder einmal waren Gesicht und Augen eindeutig die von Hazel D’Ark.

Eine ganze Weile standen die vier nur da und musterten einander mit Mienen, die unterschiedliche Grade des Unglaubens ausdrückten. Dann wandte sich Owen an Hazeclass="underline" »Sagt mir, daß Ihr diese beiden nicht absichtlich herbeigerufen habt.«

»Na, das ist ja ein hübscher Empfang«, fand die schwarze Kriegerin mit einer tiefen, reichen Stimme voller Humor. »Und das, nachdem ich einen so langen Weg zurückgelegt habe, um euch zu treffen. Ich bin Mitternachtsblau. Ist das wirklich eine andere Version meiner selbst?«

»Nun, man könnte es so ausdrücken«, sagte Owen. »Ich bin…«

»Oh, ich kenne dich, Owen Todtsteltzer«, unterbrach ihn Mitternachtsblau. Und dann sprang sie vor, schlang die Arme um ihn, ohne dabei die Axt loszulassen, und drückte ihn so kräftig an den eindrucksvollen Busen, daß sie Owen damit die Luft aus den Lungen preßte. Er stand gerade im Begriff, sein Gleichgewicht zurückzuerlangen, da stieß sie ihn plötzlich zurück, steckte die Axt in den Gürtel, holte aus und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. Der Knall war ohrenbetäubend. Owen taumelte rückwärts und wäre vielleicht gestürzt, hätte ihn Mitternachtsblau nicht gleich wieder an sich gedrückt, während ihr Tränen in die Augen traten.

»Na ja«, gab Hazel kund, »du hast dich schon immer darauf verstanden, Leute zu beeindrucken, Todtsteltzer.« Sie musterte die überall durchstochene weiße Erscheinung. »Hast du eine Ahnung, was hier vorgeht?«