»Stopf dir die Augen in den Kopf zurück. In diesen Sachen bin ich mehr ich selbst. Mehr die Person, die ich früher war.«
Sie blieb vor dem nächsten mannshohen Spiegel stehen, warf sich in Positur und nickte beifällig. »Wie ist es damit? Monate voller Schmausen und Trinken und all der anderen Dinge, die so ungesund sind, und kein Gramm zugenommen. Eine der nützlicheren Nebenwirkungen des Labyrinths. Ich bin in Topform und zu allem bereit. Falls du daran zweifelst, tue dir keinen Zwang an und attackiere mich; ich strecke dich schon zu Boden!«
»Dein Wort reicht mir«, sagte Jakob lächelnd. »Verstehe ich dich richtig, daß deine langen Ferien vorbei sind und du bereit bist, wieder an die Arbeit zu gehen?«
»Ich bin immer zu ein bißchen Aktivität aufgelegt«, behauptete Ruby. »Obwohl ich sagen muß, daß ich für mein Come-back gern etwas anderes gewählt hätte, als mich mit Shub anzulegen.« Sie drehte sich plötzlich um und blickte Jakob direkt in die Augen. »Die abtrünnigen KIs sind seit jeher mein schlimmster Alptraum. Die Maschinen, die gegen ihre Schöpfer rebellierten. Sie sind so ziemlich das einzige, was mir heute noch Angst macht. Verglichen mit ihnen sind wir nur Ameisen, die hilflos darauf warten, daß der Stiefel auf sie tritt oder das heiße Wasser sie wegspült.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß dir noch irgend etwas Furcht einflößt«, sagte Jakob.
»Selbst ich bin vernünftig genug, um mich vor Shub zu ängstigen«, versetzte Ruby, »Nirgendwo gibt es einen Ort, wo man vor denen sicher wäre. Furien, Geistkrieger, verdeckte Agenten, deren Bewußtsein in der Matrix ausgetauscht wurde. Man kann niemandem mehr trauen. Da draußen gab es schon immer Leute, die genauso gefährlich waren wie ich, bessere Kämpfer mit höheren Erfolgsquoten, aber ich erwies mich als raffinierter, cleverer, schneller. Ich übernahm die Jobs, die sie nicht haben wollten, ging die Risiken ein, die sie ablehnten, und lachte ihnen ins eifersüchtige Gesicht, als meine Reputation ihre übertraf. Und nachdem das Labyrinth des Wahnsinns mich in eine Hölle auf zwei Beinen verwandelt hatte, dachte ich, jetzt wäre ich am Ziel. Ich war endlich unschlagbar, die Spitzenfrau, die Allerbeste. Ich hätte es besser wissen sollen. Das erste, was jeder Kämpfer lernt, lautet: Es spielt keine Rolle, wer man ist oder wie gut man ist; es gibt immer jemanden, der einen übertrifft.«
»Das sind doch nur Maschinen«, gab Jakob zu bedenken, den ihre seltene Offenheit und Verwundbarkeit rührte. »Letztlich läuft es darauf hinaus. Und keine Maschine ist dem menschlichen Geist gewachsen. Wir haben sie gebaut, nicht umgekehrt.
In Ordnung, auf uns gestellt, sogar mit unseren Kräften, könnten wir nicht lange gegen die Streitkräfte von Shub durchhalten. Aber wir sind nicht auf uns gestellt. Wir gehören der Menschheit an, und zusammen können wir alles vollbringen, was wir uns vornehmen. Shub ist letztlich nichts weiter als ein Haufen Addiermaschinen, die an der Einbildung leiden, sie wären etwas Besonderes.«
»Ich wünschte, ich könnte daran glauben«, sagte Ruby.
»Aber sie sind so groß…«
»Größe ist nicht alles«, erklärte Jakob lächelnd, und einen Augenblick später erwiderte Ruby das Lächeln. »Auch Löwensteins Imperium war groß«, fuhr er fort, »und doch haben wir zu seinem Sturz beigetragen.«
»Ja«, sagte Ruby. »Das haben wir, nicht wahr?« Sie grinste auf einmal. »Ach zum Teufel! Treten wir doch in ein paar Metallärsche!«
»Klingt gut, finde ich«, bekräftigte Jakob. »Aber bevor wir aufbrechen, sollte ich dir lieber eine aktuelle Information übermitteln. Es scheint, daß das Parlament nach unserem Aufbruch einen ganz besonderen Gast empfing. Einen ganz unerwarteten Besucher.«
»Deinem Gesicht kann ich entnehmen, daß es keine gute Nachricht ist«, stellte Ruby fest. »Aber wann ist es das jemals?
In Ordnung, ich rate. Der junge Jakob Ohnesorg, vom Schrottplatz zurückgekehrt? Valentin Wolf? Löwenstein?«
»Der Halbe Mann«, sagte Jakob. »Oder, genauer gesagt, die bislang fehlende Menschenhälfte des Halben Mannes. Die rechte Körperseite, komplett mit stützender Energiehälfte, genau wie beim Vorgänger.«
Ruby musterte ihn. »Du machst Witze.«
»Ich wünschte, es wäre so.«
»Nun, das kompliziert die Lage aber nun wirklich.«
»Du hast ja keine Ahnung«, sagte Jakob. »Zum Glück waren Toby und Flynn zugegen und haben alles mit der Kamera aufgenommen, und die Bilder laufen seitdem ständig in irgendeiner Nachrichtensendung. Schau sie dir selbst an.«
Ruby schaltete den Holoschirm ein und ließ ihn nach der Aufnahme suchen. Er brauchte eine oder zwei Sekunden, um einen Sender zu finden, der das Band gerade startete, und dann zeigte der Schirm das Parlament, nicht lange nach dem Zeitpunkt, als die meisten Hauptprotagonisten der politischen Szene gegangen waren. Ein Abgeordneter hielt gerade eine lange und langweilige Rede, die außer ihm niemanden interessierte. Kaum jemand schenkte ihm Beachtung. Die meisten warteten ungeduldig, daß sie endlich selbst damit an die Reihe kamen, alle anderen zu Tode zu langweilen; einige schwatzten leise miteinander, und ein halbes Dutzend Abgeordnete spielten Poker.
Und dann erfolgte ein plötzlicher Lichtblitz, so grell, daß er die Kameralinsen überforderte, und als das Bild zurückkehrte, stand der Halbe Mann mitten im Parkett vor dem Hohen Haus.
Sofort plapperten die Abgeordneten überrascht und empört los, aber das Geraune erstarb rasch, als sie den Halben Mann erkannten. Dann blieb es eine geraume Weile still, denn es wurde erkennbar, daß die Gestalt nicht genau das war, womit man zuerst gerechnet hatte, sondern eher ein Spiegelbild des Halben Mannes, den man schon kannte. Bei der jetzigen Gestalt bestand die rechte Körperhälfte aus Fleisch und Blut und war die linke ein schimmerndes, zischendes Energiekonstrukt in menschlicher Form.
Alle kannten die schreckliche Geschichte des Kapitäns Eilend, der zum Halben Mann geworden war. Unbekannte Fremdwesen hatten ihn von der Brücke des eigenen Sternenschiffs entführt und jahrelang mit ihm experimentiert und ihn gefoltert. Er kehrte halb als Mensch, halb als etwas anderes zurück. Er lebte jahrhundertelang und leitete das Imperium im Umgang mit Fremdwesen an, denn wer hätte die dabei anfallenden Risiken besser gekannt? Die damalige Boulevardpresse nannte ihn den Halben Mann, und er gründete den Dienst der Investigatoren, bildete sie aus und repräsentierte den starken Arm des Imperiums, unerbittlich und unversöhnlich. Schließlich tötete ihn Owen Todtsteltzer während der Rebellion.
Zumindest die linke Seite. Jetzt war die andere Hälfte zurückgekehrt und betrachtete die erschrockenen Gesichter auf allen Seiten des Hohen Hauses. Bei einem nur halb vorhandenen Gesicht fiel es schwer zu erkennen, ob er lächelte, aber es war durchaus möglich.
»Ich bin der Halbe Mann«, erklärte er schließlich mit kalter Stimme, die in der Stille laut und deutlich erklang. »Der wirkliche Halbe Mann. Der echte Kapitän Eilend. Die Kreatur, die Ihr früher unter diesem Namen gekannt und in Eurer Mitte beherbergt habt, war ein Betrüger. Ich bin der echte, endlich seinen nichtmenschlichen Peinigern entronnen, um Euch lebenswichtige Nachrichten und eine schreckliche Warnung zu überbringen.«
Eine lange Pause trat ein, in der alle darauf warteten, jemand anderes möge sich zu Wort melden. Endlich trat Toby Shreck vorsichtig vor, dicht gefolgt von Flynn, dessen Kamera direkt über ihnen schwebte, um die besten Aufnahmen zu bekommen.