Zum Ende der Rebellion hin zog Mater Mundi Hunderttausende von Espern in Städten auf ganz Golgatha zusammen und machte sich nicht mal die Mühe mit einem Fokus. Sie knallte einfach in ihre Gedanken hinein und benutzte die Esper, um zu tun, was nötig war. Wiederum hatte die Gestalt nicht lange Bestand, aber während sie hielt, fegte sie mit fast verächtlicher Lässigkeit jedes Hindernis hinweg, das den Rebellen noch entgegenstand. Die Mater Mundi manifestierte sich danach nur noch ein einziges Mal, als die Rebellion endgültig dem Ende zuging, und ergriff lange genug von Johana Wahn Besitz, um eine Handvoll nützlicher Mitspieler an Löwensteins Hof zu teleportieren.
Diana hätte dankbar sein sollen, sich sogar geehrt fühlen sollen. Sie fand jedoch eher, daß sie benutzt worden war.
Und so machte sie sich auf, in Erfahrung zu bringen, wer oder was sie benutzt hatte und warum, lief dann aber nur vor eine massive Wand. Die Mater Mundi wünschte offenkundig nicht, daß ihre tatsächliche Natur bekannt wurde, und hatte große Mühe darauf verwandt, ihre Spuren zu verwischen.
Gerüchte und Klatsch kursierten reichlich, aber nichts, was man als harte Tatsachen bezeichnen konnte, egal, wie tief Diana auch grub. Man glaubte allgemein, daß die Mater Mundi irgendwann in ferner Vergangenheit die Esper-Bewegung gegründet und sich dann in die Obskurität zurückgezogen hatte, um die Entwicklung aus der Ferne zu betrachten und zu steuern. Nirgendwo jedoch war eine Unterlage von irgend jemandem aufzutreiben, der persönlich Zeuge von irgendeinem dieser Vorgänge geworden war oder der einen solchen Zeugen kannte.
Ein Punkt zeichnete sich allerdings klar ab: Leute, die sich auf die Suche nach der Mater Mundi machten, kehrten meist nicht zurück. Leute, die zu viele Fragen stellten, verschwanden.
Schließlich erklärte die Untergrundbewegung die Weltenmutter für tabu, ein zu gefährliches Geheimnis, als daß man ihm hätte nachgehen dürfen. Diana gab einen Dreck darauf. Nach ihrer Erfahrung hatten Menschen, die sich versteckten, gewöhnlich einen guten Grund dafür, und sie wollte einfach herausfinden, welcher in diesem Fall vorlag. Warum sich die Göttin der Esper vor ihren Verehrern verbarg. Und warum sie glaubte, sie könnte Menschen einfach benutzen und wieder wegwerfen, ohne Rechenschaft darüber abzulegen.
Diana entschied: Falls irgendwo Informationen vorhanden waren, dann in den Aufzeichnungen der Esper-Bewegung. Also marschierte sie ins Esper-Gildenhaus in Parade der Endlosen, übernahm die Datenbankabteilung und verwehrte es im Grunde jedem, irgend etwas dagegen zu unternehmen.
Zunächst kam sie nicht schnell an irgend etwas heran. Alle Arten von Blockaden und Paßwörtern hielten sie auf, geheime Dateien innerhalb anderer Dateien und doppelte Verschlüsselungen, mit denen sie keine Erfahrung hatte. Die Esper-Gilde schützte ihre Geheimnisse gut – sogar vor den eigenen Leuten.
Vielleicht besonders vor ihnen. Diana hatte jedoch vorausgeplant, hatte nützliche Beziehungen zu den Kyberratten gepflegt, die die Schutzmechanismen der Gilde nur als Herausforderung betrachteten. Diana sah zu und lernte mit einer Geschwindigkeit hinzu, die sie selbst verblüffte. Die Mater Mundi hatte sie vielleicht verlassen, aber Diana hatte sich trotzdem im Vergleich zu vorher weiterentwickelt. Bald schon brauchte sie die Hilfe der Kyberratten nicht mehr und drang bei der Verfolgung eines rätselhaften Gespenstes immer tiefer in die Vergangenheit vor.
Sie entdeckte eine Menge geheimer Wahrheiten über die Frühzeit der Untergrundbewegung, als die Esper noch darum gerungen hatten, sie aufzubauen. Sie fand Dateien mit heimlichen Absprachen und schwer verdaulichen Abkommen, mit Angaben zu guten Leuten, die man der Sache geopfert hatte.
Zu gegnerischen Organisationen, die brutal vernichtet wurden, damit die Untergrundbewegung Alleinvertreterin aller Esper wurde. Helden der Vergangenheit erwiesen sich als Schurken, und frühere Schurken entpuppten sich einfach als Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren oder zu viele hinderliche Skrupel gehabt hatten. Wie in so vielen Organisationen, die längere Zeit überdauerten, schrieben die Sieger die Geschichte und opferte man die Wahrheit auf dem Altar der Nützlichkeit.
Diana war eigentlich nicht überrascht. Aber so tief sie auch grub, die Mater Mundi entzog sich ihrem Zugriff, flackerte nur an den Rändern der Untergrundbewegung auf, griff in das Leben dieser oder jener Person ein, steuerte den Fortschritt der Bewegung mit einem subtilen Anstoß hier und einer unauffälligen Maßnahme dort. Das Muster wurde deutlich, wenn man nur weit genug zurücktrat, und Diana konnte einfach nicht glauben, daß sie die erste war, die das getan haben sollte, aber nirgendwo fand sie Aufzeichnungen, nirgendwo solide Fakten, die diese Bezeichnung verdient gehabt hätten, nirgendwo offizielle Dateien irgendwelcher Art über die Mater Mundi.
Falls die Wahrheit überhaupt zu finden war, dann hatte man sie wirklich tief vergraben, dort, wo vielleicht nicht mal die heutigen Führungskräfte sie noch fanden. Etwas hatte die Verantwortlichen erschreckt. Und wenn man manche der Dinge betrachtete, die die Bewegung unternahm und die nach wie vor in den Unterlagen auftauchten, dann mußte ganz schön unangenehm sein, was sie über Unsere Mutter Aller Seelen herausgefunden hatten. Oder gefährlich.
Esper waren zuerst durch gentechnische Manipulationen vor etwas weniger als drei Jahrhunderten entstanden. Ein glücklicher Zufall, das unerwartete Ergebnis von Experimenten, mit denen man ein ganz anderes Ziel verfolgt hatte. Es dauerte einige Zeit, den Vorgang zu stabilisieren, um gezielt bestimmte Fähigkeiten zu erzeugen – die von Telepathen, Psychokineten, Pyrokineten und so weiter. Danach kam es nur noch darauf an, Qualitätskontrollen durchzuführen, damit man das Endprodukt erfolgreich vermarkten konnte. Esper galten nicht als Menschen. Sie waren Eigentum – wie Klone. Das Endprodukt imperialer Wissenschaft.
Niemand protestierte. Zumindest niemand, der etwas hätte ändern können.
Als die Esper-Bewegung erst einmal gegründet war, probierten ihre Führer viele Wege, manche erfolgreicher als andere.
Zu ihren anstößigeren Ideen gehörte der Versuch, insgeheim auf gentechnischem Weg Superesper aus bereits vorhandenen Espern zu erzeugen, um die neue Variante als Waffe in ihrem großen Kampf einzusetzen – Esper mit mehr als einer Fähigkeit oder sogar mit neuen, bislang nicht erträumten Kräften.
Esper, die so hell brennen würden, daß Sonnen daneben verblaßten. Einwände wurden vorgebracht, aber niedergeschrien.
Schließlich war Krieg.
Zu Anfang herrschte kein Mangel an Freiwilligen, aber das änderte sich rasch, als deutlich wurde, daß die Resultate fast ausschließlich negativ waren. Den Wissenschaftlern gelang es einfach nicht, Superesper zu erzeugen. Nur Monster entstanden, körperliche und geistige, schrecklicher, als man ertragen konnte. Die Bewegung vernichtete alle, bei denen sie sich in der Lage sah, und tat mit den übrigen etwas anderes. Niemand wußte, was. Die Dateien waren so versteckt, daß niemand sie finden konnte. Bis Diana kam. Nur wenige solide Beweise waren von dem geblieben, was die Esper-Forscher in ihren Laboratorien hervorgebracht hatten, aber es gab eine Namensliste.
Der Trümmerpsycho. Höllenfeuer Blau. Schreiende Stille. Der Graue Zug. Die Spinnenharfen. Und ein letzter Name mit einem Datum, das Jahrhunderte vor der Entstehung der Esper-Bewegung lag. Ein vertrauter Name.