Todtsteltzer.
Diana wußte noch nicht recht, was sie damit anfangen sollte.
Sie hatte vorsichtig versucht, das Thema Owen gegenüber vorzubringen, aber er saß nur eine Zeitlang da, machte ein sehr nachdenkliches Gesicht und verschloß sich dann ganz. Sie versuchte es mit Argumenten, mit Drohungen, erreichte aber mit beidem nichts. Nicht einmal Johana Wahn verfügte über das, was nötig gewesen wäre, um Owen Todtsteltzer unter Druck zu setzen.
Diana machte ein finsteres Gesicht. Die Überlebenden aus dem Labyrinth des Wahnsinns bereiteten ihr Sorgen. Menschliche Wesen hätten nicht zu Dingen befähigt sein dürfen, wie diese Leute sie so beiläufig vollbrachten. Und alle Zeichen sprachen dafür, daß sie weiterhin stärker wurden, ohne daß ein Ende absehbar gewesen wäre. Vielleicht entwickelten sie sich mit der Zeit zu etwas, was mit der Mater Mundi vergleichbar war; sicherlich waren sie alle schon ein gutes Stück über die menschliche Natur hinausgeschritten.
Diana nutzte die eine oder andere Gelegenheit und sprach mit ihnen allen über das Labyrinth des Wahnsinns, aber ihre Gesprächspartner hatten nicht viel zu sagen. Der eine Punkt, in dem sie übereinstimmten, war, daß das Labyrinth von Dianas Vater, Kapitän Schwejksam, zerstört worden war. Also wandte sich Diana auf der Suche nach Antworten an ihn, schon halb überzeugt, daß die Mater Mundi jemand war, der das Labyrinth Jahrhunderte zuvor durchschritten hatte. Womöglich waren die Doppelinitialen sogar eine Art Hinweis. Schwejksam wußte jedoch nicht viel und erzählte nur, daß er lediglich ein Stück durchs Labyrinth gegangen war, ehe er sich wieder daraus zurückzog. Er entwickelte allmählich selbst merkwürdige Fähigkeiten, zeigte sich aber nicht bereit, näher auf sie einzugehen.
Was er allerdings sagte: Er hatte miterlebt, wie das Labyrinth viele Mitglieder seiner Besatzung umbrachte, die es zusammen mit ihm betreten hatten, und das auf grauenhafte, alptraumhafte Art.
Einer der Esper verschwand einfach, und Luft fuhr knallend in das Vakuum, wo er noch einen Augenblick zuvor gestanden hatte… Ein Infanterist fiel in eine der Metallwände und verschwand, als hätte die Wand ihn absorbiert… Zwei Marineinfanteristen rannten ineinander wie Farben, die ein Maler auf der Palette mischte, und ihr rohes fleisch durchdrang sich gegenseitig über alle Hoffnung hinaus, es je wieder zu trennen…
Und überall das rauhe Knallen explodierender Köpfe und das Lachen und Schreien von Menschen, die am Rand des Wahnsinns standen oder die Grenze bereits überschritten hatten.
Das Labyrinth des Wahnsinns griff sich ein paargewöhnliche Männer und Frauen und machte Übermenschen aus ihnen.
Aber es brachte verdammt viel mehr Menschen um.
Diana fragte ihren Vater nie, warum er das Labyrinth vernichtet hatte. Entweder hielt er allein die Existenz für eine Gefährdung der gesamten Menschheit, oder er wollte es den Rebellen vorenthalten oder einfach Rache für den Tod so vieler Besatzungsmitglieder nehmen. Sie war sich ziemlich sicher, daß er ihr keine genaue Antwort hätte geben können.
Zur Zeit sah sich Diana genötigt, auf weitere Fragen in dieser Richtung zu verzichten, da alle Überlebenden des Labyrinths Golgatha verlassen hatten. Aber sie hatte auch das starke Gefühl, daß Mater Mundi letztlich doch nicht direkt etwas mit dem Labyrinth zu tun hatte. Was immer sonst sie verkörpern mochte, Unsere Mutter Aller Seelen war definitiv ein Esper-Phänomen, und für die Überlebenden des Labyrinths… galt das nicht. Und zu was auch immer sich diese letztlich entwickelten, Diana hegte den Verdacht, daß das Endergebnis nicht unbedingt auch nur entfernt menschlich ausfallen würde.
Sie schob den Gedanken zur Seite. Jeder Tag hatte seine eigene Bürde und seine eigene Last. Oder etwas in dieser Art.
Jüngst hatte sich Diana vor allem auf die historischen Dateien konzentriert, die frühere Manifestationen der Weltenmutter behandelten. Die Namen waren wohlbekannt, aber die harten Fakten über ihre… Besessenheit… blieben gut versteckt. Es waren insgesamt bemerkenswert wenige Personen, nur acht in über zweihundert Jahren. Als Menschen wiesen sie keine Gemeinsamkeiten auf, abgesehen von einer beunruhigenden Tatsache: Keiner hatte es überlebt, von der Mater Mundi berührt zu werden. Sie wurden verrückt, und nachdem sie die Wünsche der Über-Esperin ausgeführt hatten, verbrannten sie von innen heraus, verzehrt von der Kraft, die in ihnen tobte. Es blieb nicht mal genug übrig, um sie begraben zu können. Es schien, als wäre ein bloß menschliches Bewußtsein einfach nicht in der Lage, die gewaltige Energie zu steuern, die die Mater Mundi in ihnen entfesselt hatte.
Diana wurde kalt zumute, als sie das zum ersten Mal las. Sie hätte sterben können. Allen anderen war es so gegangen. Die Mater Mundi hatte jeden Grund zu erwarten, daß auch Diana durchdrehte und starb, und hatte sie trotzdem benutzt. Sie konnte unmöglich wissen, daß Diana Vertue, damals fast gänzlich Johana Wahn, der erste Avatar sein würde, der die verstärkende Berührung der Weltenmutter überlebte. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, daß Diana schon mehr als nur ein bißchen verrückt gewesen war, als die Mater Mundi sie in der Hölle des Wurmwächters fand und benutzte. Was etwas über den Zustand oder das Wesen der Mater Mundi aussagte, das Diana sehr beunruhigte.
War das womöglich die Antwort? Daß die Handlungen der Über-Esperin keinen erkennbaren Sinn ergaben, weil sie oder es völlig verrückt war? Nein, das Vorgehen während der Rebellion war ziemlich klar gewesen. Die Tatsache, daß Diana bislang kein Schema entdeckt hatte, hieß noch nicht, daß keines existierte.
Jemand hatte die Wahrheit über die früheren Manifestationen sorgfältig vertuscht, und das von Anfang an. Die Untergrundbewegung wußte vielleicht nicht, was sich hinter der Weltenmutter versteckte, aber sie wußte, daß sie sie brauchte. Nur die versteckten Dateien verrieten, daß die früheren Manifestationen spektakulär umgekommen waren und dabei Hunderte unschuldiger Umstehender mitgenommen hatten.
Anscheinend hatte die Untergrundbewegung nie irgendeinen Versuch unternommen, dieser… Kraft nachzugehen, die ihre eigenen Leute übernahm und vernichtete. In jedem Krieg ist es nützlich, den Gegner genau zu kennen, aber die eigenen Bundesgenossen genau zu kennen, das ist absolut lebenswichtig.
Und doch enthielten die Dateien nichts, überhaupt nichts, was auch nur angedeutet hätte, daß jemand im Untergrund auch nur eine der naheliegendsten Fragen gestellt hatte. Es schien, als wäre niemandem die Idee gekommen. Was die alarmierende Frage aufwarf, wie weit der Einfluß der Mater Mundi reichte.
Johana Wahn hatte die Berührung durch die Weltenmutter überlebt. Ebenso Investigator Topas. Zwei Frauen, die allgemein als verrückt galten. Vielleicht waren sie durch ihre abwegigen Denkstrukturen anpassungsfähig genug gewesen, um mit einer Veränderung fertig zu werden, die aus ihnen etwas mehr oder zumindest etwas anderes als Menschen machte. Ganz sicher waren Dianas Kräfte durch die Berührung der Weltenmutter… transformiert worden. Diana bezweifelte, daß man auf Golgatha einen Telepathen fand, der mit ihr hätte mithalten können, falls sie es auf einen Vergleich abgesehen hätte. Und sie verfügte noch über andere Kräfte – Psychokinese und Präkognition, was eigentlich als unmöglich galt. Die Gentechniker hatten durch erschöpfende und oft tragisch verlaufende Experimente nachgewiesen, daß das menschliche Hirn nur mit jeweils einer Kraft umgehen konnte. Sonst brannte das Bewußtsein aus.