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Suzanne Collins

Tödliche Spiele

Die Tribute von Panem 1

Deutsch von Sylke Hachmeister und Peter Klöss

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Hunger Games«

TUX - ebook 2010

Die Tribute von Panem

- Tödliche Spiele -

Teil 1

Die Tribute

1

Als ich aufwache, ist die andere Seite des Bettes kalt. Ich strecke die Finger aus und suche nach Prims Wärme, finde aber nur das raue Leinen auf der Matratze. Prim muss schlecht geträumt haben und zu Mutter geklettert sein. Natürlich. Heute ist der Tag der Ernte.

Ich stütze mich auf den Ellbogen. Das Licht im Schlafzimmer reicht aus, um die beiden zu sehen. Meine kleine Schwester Prim, auf der Seite zusammengekauert, eingesponnen in Mutters Körper, Wange an Wange. Im Schlaf sieht meine Mutter jünger aus, immer noch erschöpft, aber nicht so resigniert. Prims Gesicht ist frisch wie ein Regentropfen, so lieblich wie die Blume, nach der sie benannt wurde. Primrose, Primel. Meine Mutter war früher auch sehr schön. Zumindest hat man mir das erzählt.

Vor Prims Knien hockt der hässlichste Kater der Welt und hält Wache. Eingedrückte Nase, ein halbes Ohr weg, Augen von der Farbe eines fauligen Kürbisses. Prim hat ihn Butterblume genannt, sie beharrt darauf, dass das schlammgelbe Fell exakt so aussieht wie die leuchtende Blume. Der Kater hasst mich. Misstraut mir zumindest. Obwohl es Jahre her ist, erinnert er sich bestimmt immer noch daran, wie ich versucht habe, ihn in einem Kübel zu ertränken, als Prim ihn mit nach Hause brachte. Ein mageres Kätzchen, den Bauch voller Würmer, das Fell ein Tummelplatz für Flöhe. Das Letzte, was ich damals brauchen konnte, war ein weiteres Maul, das gefüttert werden wollte. Doch Prim hat so lange gebettelt und geweint, dass wir ihn einfach behalten mussten. Es ging gut. Meine Mutter hat ihn von den Parasiten befreit und er ist der geborene Mäusejäger. Fängt gelegentlich sogar eine Ratte. Manchmal, wenn ich Wild ausnehme, werfe ich Butterblume die Innereien hin. Dafür faucht er mich nicht mehr an.

Innereien. Kein Gefauche. Näher werden wir uns nie kommen.

Ich schwinge die Beine aus dem Bett und schlüpfe in meine Jagdstiefel. Geschmeidiges Leder, das sich meinen Füßen angepasst hat. Ich ziehe die Hose an, ein Hemd, stopfe meinen langen dunklen Zopf unter eine Mütze und greife nach meiner Provianttasche. Auf dem Tisch, unter einer Holzschüssel, die ihn vor hungrigen Ratten (und Katzen) schützt, liegt ein perfekter kleiner Ziegenkäse, der in Basilikumblätter eingewickelt ist. Den hat Prim mir zum Erntetag geschenkt. Ich stecke den Käse vorsichtig in meine Provianttasche und schlüpfe hinaus.

In unserem Teil von Distrikt 12, genannt der Saum, wimmelt es um diese Zeit normalerweise von Kohlearbeitern, die sich auf den Weg zur Frühschicht machen. Männer und Frauen mit krummen Rücken und geschwollenen Fingerknöcheln, die es schon vor langer Zeit aufgegeben haben, den Kohlenstaub aus ihren brüchigen Nägeln zu schrubben, aus den Falten ihrer eingefallenen Gesichter. Doch heute sind die schwarzen Schlacke-Straßen leer. Die Fensterläden der gedrungenen grauen Häuser sind geschlossen. Die Ernte beginnt erst um zwei. Da darf man ruhig ausschlafen. Wenn man kann.

Unser Haus steht fast am Rand des Saums. Ich muss nur an ein paar Toren vorbei, um auf das verwahrloste Feld zu gelangen, das die Weide genannt wird. Vom Wald wird sie durch einen hohen Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtrollen am oberen Ende getrennt, der den gesamten Distrikt 12 umgibt. Theoretisch soll er vierundzwanzig Stunden am Tag unter Strom stehen, um die Raubtiere abzuhalten, die im Wald leben - Rudel wilder Hunde, einsame Pumas und Bären - und früher unsere Straßen bedroht haben. Aber wir können schon von Glück reden, wenn wir abends zwei oder drei Stunden Strom haben, und deshalb kann man ihn normalerweise gefahrlos anfassen. Dennoch warte ich immer einen Augenblick ab und lausche auf das Summen, an dem ich höre, dass der Zaun unter Strom steht. Doch jetzt ist er stumm wie ein Stein. Im Schutz eines Gebüschs mache ich mich ganz flach und schlüpfe unter einem zwei Fuß breiten Stück hindurch, das seit Jahren frei liegt. Es gibt noch einige andere Schwachstellen im Zaun, aber die hier befindet sich so nah an unserem Haus, dass ich sie fast immer benutze, wenn ich in den Wald gehe.

Im Schutz der Bäume hole ich einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen aus einem hohlen Stamm. Ob unter Strom oder nicht, der Zaun hat die Fleischfresser erfolgreich von Distrikt 12 ferngehalten. Innerhalb des Waldes ziehen sie allerdings frei umher und dann muss man sich noch vor Giftschlangen in Acht nehmen, vor tollwütigen Tieren, kaum begehbaren Pfaden. Dafür gibt es Nahrung - vorausgesetzt, man weiß, wo sie zu finden ist. Mein Vater wusste es und er hat mir einiges beigebracht, bevor er durch eine Explosion in der Mine in Stücke gerissen wurde. Da war nichts mehr, was wir hätten begraben können. Ich war damals elf. Heute, fünf Jahre danach, wache ich immer noch davon auf, dass ich ihm zuschreie, er solle wegrennen.

Obwohl das Betreten des Waldes illegal ist und Wilderei die schwersten Strafen nach sich zieht, würden es mehr Leute wagen, wenn sie Waffen hätten. Die meisten sind nicht mutig genug, sich nur mit einem Messer bewaffnet hineinzutrauen. Mein Bogen hat Seltenheitswert, er wurde noch von meinem Vater angefertigt, zusammen mit ein paar anderen, die ich, sorgfältig in wasserdichte Hüllen gewickelt, sicher im Wald versteckt habe. Hätte mein Vater sie verkauft, hätte er viel Geld verdienen können, doch wenn die Beamten dahintergekommen wären, wäre er wegen Anzettelung eines Aufstands öffentlich hingerichtet worden. Die meisten Friedenswächter drücken gegenüber uns wenigen Jägern ein Auge zu, weil sie wie alle anderen nach frischem Fleisch gieren. Sie gehören sogar zu unseren besten Kunden. Aber sie würden nie zulassen, dass jemand den Saum mit Waffen versorgt.

Im Herbst schleichen sich ein paar Mutige in den Wald, um Äpfel zu pflücken. Aber stets in Sichtweite der Weide. Immer nah genug, um bei Gefahr schnell zurück in die Sicherheit von Distrikt 12 eilen zu können. »Distrikt 12. Wo man gefahrlos verhungern kann«, murmele ich. Dann schaue ich rasch über die Schulter. Sogar hier, am Ende der Welt, hat man Angst, man könnte belauscht werden.

Als ich jünger war, erschreckte ich meine Mutter zu Tode mit dem, was ich über Distrikt 12 sagte; über Panem und die Leute, die unser Land aus der fernen Stadt regieren, die das Kapitol genannt wird. Irgendwann begriff ich, dass uns das nur noch mehr Scherereien einbringen würde. Also lernte ich, meine Zunge zu hüten und eine gleichgültige Maske aufzusetzen, damit niemand meine wahren Gedanken lesen konnte. Lernte, in der Schule still meine Aufgaben zu machen. Auf dem Marktplatz nur höflich über Belangloses zu sprechen. Auf dem Hob, dem Schwarzmarkt, wo ich das meiste Geld verdiene, überhaupt nicht viel zu sagen und nur meinen Handel abzuschließen. Selbst zu Hause, wo ich weniger Rücksicht nehme, vermeide ich die heiklen Themen. Wie die Ernte oder die Lebensmittelknappheit oder die Hungerspiele. Prim könnte es mir ja nachplappern und was sollte dann aus uns werden?

Im Wald wartet der einzige Mensch, bei dem ich sein kann, wie ich bin. Gale. Ich spüre, wie sich meine Züge entspannen und ich schneller werde, während ich die Hügel hinauf zu unserem Ort klettere. Ein Felsvorsprung, der ein Tal überblickt und von einem Dickicht aus Beerensträuchern vor unerwünschten Blicken abgeschirmt ist. Als ich sehe, dass Gale auf mich wartet, muss ich lächeln. Er sagt, ich lächele niemals, außer im Wald.