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»Katniss, ich weiß, das war gerade ein Schock für dich, aber ich muss das fragen. Als du diese Beeren hervorgeholt hast. Was ging da in dir vor … hm?«, sagt er.

Ich lasse mir ausgiebig Zeit, bevor ich antworte, und versuche, meine Gedanken zu sammeln. Das ist der Knackpunkt, an dem ich entweder das Kapitol herausgefordert habe oder vor lauter Angst, Peeta zu verlieren, so durchgedreht bin, dass ich nicht für meine Taten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Jetzt wäre eine große, dramatische Rede fällig, aber alles, was ich herausbekomme, ist ein fast unhörbarer Satz. »Ich weiß nicht, ich … ich konnte einfach den Gedanken nicht ertragen … ohne ihn zu sein.«

»Und, Peeta? Willst du noch etwas hinzufügen?«, fragt Caesar.

»Nein. Ich glaube, das gilt für uns beide«, sagt er.

Caesar macht Schluss und dann ist es vorbei. Alle lachen und weinen und umarmen sich, aber ich bin immer noch unsicher, bis ich bei Haymitch bin. »Okay?«, flüstere ich.

»Perfekt«, erwidert er.

Ich gehe zurück in mein Zimmer, um meine Siebensachen zu packen, aber ich finde nur die Brosche mit dem Spotttölpel, die Madge mir geschenkt hat. Jemand hat sie mir nach den Spielen ins Zimmer gelegt. In einem Wagen mit getönten Scheiben werden wir durch die Straßen gefahren, der Zug wartet schon. Wir haben kaum Zeit, um uns von Cinna und Portia zu verabschieden; in ein paar Monaten werden wir sie wiedersehen, auf unserer Tour durch die Distrikte zu den Siegesfeiern, mit denen das Kapitol die Leute daran erinnert, dass die Hungerspiele nie ganz vorbei sind. Wir werden eine Menge nutzloser Plaketten umgehängt bekommen und alle müssen so tun, als fänden sie uns großartig.

Der Zug fährt los und wir tauchen in die Nacht des Tunnels ein. Erst als er hinter uns liegt, tue ich meinen ersten Atemzug in Freiheit seit der Ernte. Effie begleitet uns nach Hause und Haymitch natürlich auch. Wir bekommen ein riesiges Abendessen und setzen uns schweigend vor den Fernseher, um uns die Wiederholung des Interviews anzuschauen. Mit jeder Sekunde, in der wir uns vom Kapitol entfernen, denke ich mehr an zu Hause. An Prim und meine Mutter. An Gale. Ich ziehe mich zurück, um mein Kleid gegen ein schlichtes T-Shirt und eine Hose einzutauschen. Während ich langsam und gründlich das Make-up abwasche und mein Haar zu dem üblichen Zopf flechte, beginne ich mich in mich selbst zurückzuverwandeln. Katniss Everdeen. Ein Mädchen aus dem Saum. Das im Wald jagt. Auf dem Hob Geschäfte macht. Ich starre in den Spiegel und versuche mich zu erinnern, wer ich bin und wer ich nicht bin. Als ich mich wieder zu den anderen geselle, fühlt sich der Druck von Peetas Arm auf meiner Schulter fremd an.

Als der Zug kurz anhält, um aufzutanken, dürfen wir aussteigen und ein bisschen frische Luft schnappen. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, uns zu bewachen. Peeta und ich spazieren am Gleis entlang, Hand in Hand, aber jetzt, da wir allein sind, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Er bleibt stehen und pflückt mir einen Strauß Wildblumen. Als er sie mir überreicht, muss ich mich sehr anstrengen, erfreut auszusehen. Er kann ja nicht wissen, dass die rosa-weißen Blumen die Blüten wilder Zwiebeln sind und mich sofort an Gale erinnern, mit dem ich sie immer gesammelt habe.

Gale. Bei der Vorstellung, ihn in ein paar Stunden wiederzusehen, habe ich ein dumpfes Gefühl im Bauch. Warum nur? Ich komme zu keinem rechten Schluss. Ich weiß nur, dass ich mich fühle, als hätte ich einen Menschen belogen, der mir vertraut hat. Oder sogar zwei. Bis jetzt bin ich damit durchgekommen, wegen der Spiele. Aber zu Hause wird es keine Spiele geben, hinter denen ich mich verstecken kann.

»Was ist?«, fragt Peeta.

»Nichts«, sage ich. Wir gehen weiter, bis ans Ende des Zugs und noch weiter, wo selbst ich ziemlich sicher bin, dass in den kümmerlichen Sträuchern längs des Gleises keine Kameras versteckt sind. Aber die Worte wollen immer noch nicht kommen.

Ich zucke zusammen, als Haymitch mir die Hand auf den Rücken legt. Selbst jetzt, in diesem Niemandsland, spricht er mit gedämpfter Stimme. »Gute Arbeit, ihr beiden. Macht im Distrikt so weiter, bis die Kameras weg sind. Dann müssten wir durch sein.« Ich schaue ihm nach, als er zum Zug zurückgeht, und meide Peetas Blick.

»Was hat er damit gemeint?«, fragt Peeta.

»Das Kapitol. Der Trick mit den Beeren hat ihnen nicht besonders gefallen«, platze ich heraus.

»Was? Wovon redest du?«, fragt er.

»Das war zu aufsässig. Deshalb hat Haymitch mich in den vergangenen Tagen gecoacht. Damit ich es nicht noch schlimmer mache«, sage ich.

»Dich gecoacht? Mich aber nicht«, sagt Peeta.

»Er wusste, dass du clever genug bist und schon alles richtig machen würdest«, sage ich.

»Aber ich wusste doch gar nicht, dass da etwas war, das man richtig machen könnte«, sagt Peeta. »Du willst mir also sagen, die letzten Tage und wahrscheinlich auch … in der Arena … Das alles war nur eine Strategie, die ihr beide ausgeklügelt habt?«

»Nein. In der Arena konnte ich doch gar nicht mit ihm sprechen, oder?«, stammele ich.

»Aber du wusstest, was er von dir erwartet, nicht wahr?«, sagt Peeta. Ich beiße mir auf die Lippen. »Katniss?« Er lässt meine Hand los und ich mache einen Schritt seitwärts, als müsste ich das Gleichgewicht halten.

»Es ging nur um die Spiele«, sagt Peeta. »Alles, was du getan hast.«

»Nicht alles«, sage ich und klammere mich an meine Blumen.

»Und wie viel, bitte sehr? Oder nein, vergiss es. Die eigentliche Frage ist doch, was davon übrig bleibt, wenn wir nach Hause kommen«, sagt er.

»Ich weiß nicht. Je mehr wir uns Distrikt 12 nähern, desto verwirrter bin ich«, sage ich. Er wartet auf weitere Erklärungen, aber es kommen keine.

»Na, dann sag Bescheid, wenn du es rausgefunden hast«, sagt er. Der Schmerz in seiner Stimme ist fast greifbar.

Jetzt weiß ich auch endgültig, dass meine Ohren wiederhergestellt sind, denn trotz des lärmenden Dieselmotors höre ich jeden seiner Schritte zurück zum Zug. Als ich wieder einsteige, hat Peeta sich schon in sein Abteil zurückgezogen. Auch am nächsten Morgen sehe ich ihn nicht. Als er sich das nächste Mal blicken lässt, fahren wir schon durch Distrikt 12. Er nickt mir zu, seine Miene ist ausdruckslos.

Ich würde ihm gern sagen, dass das nicht gerecht ist. Dass wir Fremde waren. Dass ich alles getan habe, um zu überleben, damit wir beide in der Arena überleben. Dass ich nicht erklären kann, wie ich zu Gale stehe, weil ich es selbst nicht weiß. Dass es keinen Sinn hat, mich zu lieben, weil ich sowieso niemals heiraten werde und er mich irgendwann nur hassen würde. Dass es nicht entscheidend ist, ob ich etwas für ihn empfinde oder nicht, weil ich niemals zu einer solchen Liebe fähig sein werde, die zu einer Familie und Kindern führt. Und er? Wie kann er das, nach allem, was wir durchgemacht haben?

Ich würde ihm auch gern sagen, wie sehr ich ihn jetzt schon vermisse. Aber das wäre nicht fair.

Also stehen wir schweigend da und sehen zu, wie wir in unseren schmuddeligen kleinen Bahnhof einfahren. Durchs Fenster sehe ich, dass überall auf dem Bahnsteig Kameras aufgebaut sind. Sie können es alle kaum erwarten, unsere Heimkehr zu sehen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Peeta die Hand ausstreckt. Unsicher schaue ich ihn an. »Noch einmal? Für die Zuschauer?«, sagt er und er klingt nicht wütend. Er klingt hohl und das ist noch viel schlimmer. Schon entgleitet mir der Junge mit dem Brot.

Ich ergreife seine Hand und halte sie fest, wappne mich für die Kameras und fürchte mich schon vor dem Moment, wenn ich sie wieder loslassen muss.