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Zuerst erscheinen meine Schwester und meine Mutter. Ich strecke die Hände nach Prim aus und sie klettert auf meinen Schoß, legt die Arme um meinen Hals, den Kopf auf meine Schulter, wie früher, als sie noch ein Kleinkind war. Meine Mutter setzt sich neben mich und nimmt uns in die Arme. Ein paar Minuten lang sagen wir nichts. Dann liste ich alles auf, was sie erledigen müssen, jetzt, da ich es nicht mehr für sie erledigen kann.

Prim soll auf keinen Fall Tesserasteine nehmen. Wenn sie sparsam sind, können sie mit dem über die Runden kommen, was der Verkauf von Milch und Käse von Prims Ziege und das kleine Apothekergeschäft einbringen, das meine Mutter für die Leute aus dem Saum betreibt. Gale wird ihr die Kräuter besorgen, die sie nicht selbst zieht, aber sie muss sie ihm ganz genau beschreiben, weil er sich nicht so gut auskennt wie ich. Er wird ihnen auch Wild bringen - vor einem Jahr haben er und ich darüber eine Abmachung getroffen - und wahrscheinlich nichts dafür verlangen; sie sollten sich jedoch erkenntlich zeigen, mit Milch oder Arzneien.

Ich dränge Prim nicht, jagen zu lernen. Ich habe mehrmals versucht, es ihr beizubringen, und es war eine Katastrophe. Der Wald machte ihr Angst und immer, wenn ich ein Tier schoss, fing sie an zu weinen und redete davon, dass wir es heilen könnten, wenn wir es nur schnell genug nach Hause brächten. Aber auf ihre Ziege versteht sie sich, deshalb beschränke ich mich darauf.

Als ich mit den Anweisungen bezüglich Brennstoff, Tauschgeschäften und Schule fertig bin, wende ich mich meiner Mutter zu und packe sie hart am Arm. »Hör zu. Hörst du mir zu?« Sie nickt, erschrocken über meine Eindringlichkeit. Bestimmt weiß sie, was jetzt kommt. »Du kannst dich nicht wieder verkriechen«, sage ich.

Meine Mutter schaut zu Boden. »Ich weiß. Ich werde es nicht tun. Damals konnte ich nicht anders …«

»Diesmal wirst du anders können. Du kannst dich nicht ausklinken und Prim sich selbst überlassen. Ich werde nicht mehr da sein, um euer Überleben zu sichern. Ganz gleich, was passiert. Was immer du auf dem Bildschirm siehst. Du musst mir versprechen, dass du das durchstehst!« Meine Stimme ist zu einem Schrei geworden. In diesem Schrei liegt all die Wut, all die Angst, die ich damals empfand, als sie uns verlassen hat.

Sie befreit sich aus meinem Griff, jetzt ebenfalls wütend. »Ich war krank. Hätte ich die Arzneien gehabt, die ich jetzt habe, hätte ich mich selbst kuriert.«

Möglich, dass sie wirklich krank war. Ich habe gesehen, wie sie später Leute aus einem Zustand lähmender Trauer zurück ins Leben geführt hat. Vielleicht ist es tatsächlich eine Krankheit. Aber wir können sie uns nicht leisten.

»Dann nimm diese Arzneien. Und pass auf Prim auf.«, sage ich.

»Ich pass schon selbst auf mich auf, Katniss«, sagt Prim und umschließt mein Gesicht mit den Händen. »Aber du musst auch vorsichtig sein. Du bist so schnell und mutig. Vielleicht kannst du gewinnen.«

Ich kann nicht gewinnen. Das muss Prim tief in ihrem Innern wissen. Der Wettkampf wird meine Fähigkeiten bei Weitem übersteigen. Kinder aus wohlhabenderen Distrikten, in denen der Sieg eine enorme Ehre darstellt, die ihr ganzes Leben lang darauf gedrillt wurden. Jungen, die doppelt oder dreimal so schwer sind wie ich. Mädchen, die zwanzig verschiedene Arten kennen, jemanden mit dem Messer zu töten. Ja, es wird auch Leute wie mich geben. Leute, die aussortiert werden müssen, bevor der eigentliche Spaß losgeht.

»Vielleicht«, sage ich. Ich kann ja schlecht meiner Mutter sagen, sie solle durchhalten, wenn ich mich gleichzeitig selbst schon aufgegeben habe. Abgesehen davon liegt es nicht in meiner Natur, mich kampflos zu ergeben, selbst wenn die Hindernisse unüberwindlich scheinen. »Dann wären wir so reich wie Haymitch.«

»Mir ist es egal, ob wir reich sind. Ich möchte nur, dass du wieder nach Hause kommst. Du versuchst es, ja? Ganz, ganz doli?«, fragt Prim.

»Ganz, ganz doli. Ich schwöre es«, sage ich. Und ich weiß, wegen Prim werde ich es auch wirklich versuchen müssen.

Dann erscheint ein Friedenswächter in der Tür zum Zeichen, dass unsere Zeit vorüber ist, und wir umarmen uns so fest, dass es wehtut, und alles, was ich sagen kann, ist: »Ich hab euch lieb. Ich hab euch beide lieb.« Sie sagen, dass sie mich auch lieb haben, und dann müssen sie hinausgehen und die Tür wird geschlossen. Ich vergrabe den Kopf in einem der Samtkissen, als könnte ich dadurch alles ausblenden.

Noch jemand betritt den Raum, und als ich aufblicke, sehe ich zu meiner Überraschung den Bäcker, Peeta Mellarks Vater. Ich kann kaum glauben, dass er mich besuchen kommt. Immerhin werde ich schon bald versuchen, seinen Sohn zu töten. Aber wir kennen uns flüchtig und Prim kennt er sogar noch besser. Wenn sie auf dem Hob ihren Ziegenkäse verkauft, legt sie ihm immer zwei zurück und er gibt ihr dafür eine großzügige Menge Brot. Wenn wir mit ihm handeln, achten wir stets darauf, dass seine Frau, die Hexe, nicht in der Nähe ist, weil er dann sehr viel entgegenkommender ist. Ich bin mir sicher, dass er seinen Sohn niemals so geschlagen hätte, wie sie es wegen des verbrannten Brots getan hat. Doch weshalb ist er gekommen?

Der Bäcker setzt sich verlegen auf die Kante eines Plüschstuhls. Ein großer, breitschultriger Mann mit Brandnarben von den vielen Jahren am Backofen. Er muss sich eben erst von seinem Sohn verabschiedet haben.

Er zieht eine weiße Pappschachtel aus der Jackentasche und reicht sie mir. Ich öffne sie und finde Plätzchen darin. Ein Luxus, den wir uns niemals leisten können.

»Danke«, sage ich. Der Bäcker ist auch unter angenehmeren Umständen kein gesprächiger Mensch, aber heute findet er gar keine Worte. »Ich habe heute Morgen Ihr Brot gegessen. Mein Freund Gale hat Ihnen ein Eichhörnchen dafür gegeben.« Er nickt, als würde er sich an das Eichhörnchen erinnern. »Kein guter Tausch für Sie«, sage ich. Er zuckt die Achseln, als wäre das vollkommen belanglos.

Dann fällt mir nichts mehr ein und deshalb sitzen wir schweigend da, bis ein Friedenswächter ihn zum Gehen auffordert. Er steht auf und räuspert sich. »Ich werde auf das kleine Mädchen aufpassen. Du kannst dich darauf verlassen, dass sie zu essen hat.«

Bei diesen Worten spüre ich, wie mir ein wenig leichter ums Herz wird. Mit mir treiben die Leute Handel, aber Prim haben sie aufrichtig gern. Vielleicht so gern, dass sie überlebt.

Mein nächster Besuch kommt ebenfalls unerwartet. Es ist Madge und sie kommt geradewegs auf mich zu. Sie ist nicht weinerlich und sie lenkt auch nicht ab, stattdessen liegt eine Dringlichkeit in ihrer Stimme, die mich überrascht. »Du darfst eine Sache aus diesem Distrikt in die Arena mitnehmen. Etwas, das dich an zu Hause erinnert. Möchtest du das hier tragen?« Sie hält mir die runde Goldbrosche hin, die sie an ihrem Kleid hatte. Ich habe vorher nicht besonders darauf geachtet, aber jetzt sehe ich, dass es ein kleiner fliegender Vogel ist.

»Deine Brosche?«, sage ich. Ein Andenken an meinen Distrikt zu tragen ist wohl das Letzte, was mir einfallen würde.

»Hier, ich stecke sie dir ans Kleid, einverstanden?« Madge wartet die Antwort nicht ab, sie beugt sich einfach vor und befestigt den Vogel an meinem Kleid. »Versprichst du mir, dass du ihn in der Arena tragen wirst, Katniss?«, fragt sie. »Versprichst du’s mir?«

»Ja«, sage ich. Plätzchen. Eine Brosche. Was für Geschenke ich heute bekomme. Und da kommt schon das nächste. Madge drückt mir einen Kuss auf die Wange. Dann ist sie fort und ich sitze da und denke, dass Madge vielleicht die ganze Zeit über wirklich meine Freundin war.

Zu guter Letzt kommt auch Gale, und selbst wenn es keine romantischen Gefühle zwischen uns gibt, zögere ich doch nicht, ihm in die geöffneten Arme zu fallen. Sein Körper ist mir vertraut - die Art, wie er sich bewegt, der Geruch nach Holzrauch, sogar sein Herzklopfen kenne ich von den stillen Momenten einer Jagd -, aber es ist das erste Mal, dass ich ihn richtig spüre, schlank und muskulös.