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Hunter ließ sie weiterreden. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Nachdem er es mir gesagt hat, bin ich nach Hause gefahren und habe drei Tage lang nur geheult. Ich hatte keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte. Mein ganzes Leben war eine Lüge gewesen, eine gute Tat, damit mein Vater nachts ruhig schlafen konnte. Ich habe nie die Liebe bekommen, die ein Kind verdient hat. Nur von meiner Mutter. Und jetzt wusste ich, dass alle vier, die sie damals in Stücke gehackt und ins Meer geworfen haben wie Abfall – dass diese vier Menschen inzwischen Familie hatten, eine Karriere … dass sie für das, was sie getan hatten, nicht einen Funken Scham oder Reue empfanden. Und dass sie nie ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Das war das Allerschlimmste.«

Hunter wusste, dass es nur wenige Menschen gab, die an dem, was Olivia widerfahren war, nicht innerlich zerbrochen wären. Und dass selbst diese Menschen für immer gezeichnet wären.

»Sie wissen genauso gut wie ich, dass mir Dereks Geständnis nichts genützt hätte, um diese Schweine vor Gericht zu bringen. Es ist vor achtundzwanzig Jahren passiert, und ich hatte keine Beweise, nur das Wort eines Sterbenden. Die Polizei hätte nichts unternommen und auch die Staatsanwaltschaft nicht oder sonst jemand. Niemand hätte mir geglaubt. Ich hätte einfach weiterleben müssen wie bisher, so wie ich die letzten achtundzwanzig Jahre gelebt hatte.« Sie schüttelte den Kopf. »Das konnte ich nicht. Hätten Sie das gekonnt?«

Hunter dachte an die Zeit zurück, kurz nachdem sein Vater in der Bank of America niedergeschossen worden war. Er war damals noch nicht bei der Polizei gewesen. Aber er konnte sich noch gut an seinen Zorn erinnern. Ein Zorn, der immer noch in ihm schlief. Und Polizist hin oder her, sollte er jemals denen begegnen, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten, würde er sie töten – ohne einen Augenblick des Zögerns.

»Ich war so kurz davor, mich umzubringen.« Olivias Worte katapultierten Hunter zurück ins Hier und Jetzt. »Und dann ist mir eins klargeworden: Wer sich selbst töten kann, der kann töten. So einfach ist das. Und ich habe mir geschworen, dass ich selbst für Gerechtigkeit sorgen würde, ganz egal, was auch geschieht. Für meine Mutter. Sie hat Gerechtigkeit verdient.«

Ihr Blick geisterte ziellos durch den Raum.

»Die Idee ist mir wie im Traum gekommen. Als wäre meine Mutter da gewesen und hätte mir gesagt, was ich tun soll. Als hätte sie mir den Weg gezeigt. Mein Va…« Wieder flackerte dieser unbändige Zorn in ihren Zügen auf. »Derek Nicholson hatte ein Faible für Mythologie. Er las ständig irgendwelche Bücher darüber und warf mit Zitaten um sich. Da fand ich es nur angemessen, aus ihm ein mythologisches Symbol zu machen.« Sie zog den Schlitten von Hunters Waffe zurück und lud sie durch.

Es war Zeit für den letzten Akt.

116

Erneut sah Hunter zu Olivia hoch. Er würde niemals an sie herankommen, ohne dass sie es vorher bemerkte und auf ihn schoss. Der Raum war zu groß, und sie war zu weit entfernt, als dass er irgendeine Bedrohung für sie dargestellt hätte. Außerdem hatte er zu lange mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Boden gelegen. Seine Muskeln würden ihm nicht auf Anhieb gehorchen, wenigstens nicht mit der nötigen Schnelligkeit.

»Möchten Sie jetzt auch noch die letzte Skulptur sehen?«, fragte Olivia. »Das letzte Schattenbild? Den Schluss meines kleinen Lehrstücks über die Gerechtigkeit?«

Hunter stützte das Kinn auf. Er sah erst sie an und dann Scott, der nach wie vor bewusstlos war. »Olivia, tun Sie es nicht. Das muss doch nicht sein.«

»O doch! Achtundzwanzig Jahre lang hat Derek Nicholson sein Herz beruhigt, indem er sich der armen Hurentochter angenommen hat. Achtundzwanzig Jahre lang haben diese Schweine ungestraft ihr Leben gelebt. Jetzt bin ich an der Reihe, etwas für mein Herz zu tun, solange ich noch eins habe. Stehen Sie auf«, befahl sie.

Hunter zögerte.

»Ich habe gesagt, aufstehen.« Sie zielte mit der Pistole auf ihn.

Langsam, mit schmerzenden Muskeln und Gelenken, kam Hunter auf die Füße.

»Gehen Sie da rüber.« Sie deutete zur linken Wand, auf eine Stelle bei den Stehlampen. »Stellen Sie sich mit dem Rücken gegen die Wand.«

Hunter tat, was sie von ihm verlangte.

»Sehen Sie die Taschenlampe auf dem Boden, rechts von Ihnen?«

Hunter sah nach unten und nickte.

»Heben Sie sie auf.«

Seine eigene Maglite steckte in seinem Gürtel. Er gehorchte trotzdem.

»Halten Sie sie auf Brusthöhe und schalten Sie sie ein.«

Hunter zögerte erneut. Was hatte sie vor?

»Ich musste improvisieren«, erklärte Olivia. »Eigentlich hatte ich etwas wesentlich Furchterregenderes und Schmerzhafteres geplant – mein großes Finale –, aber angesichts der veränderten Umstände muss es auch so gehen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Schalten Sie die Taschenlampe ein«, wiederholte sie.

Hunter hob die Taschenlampe an die Brust und schaltete sie ein.

Olivia trat beiseite. Hinter ihr saß Scott auf seinem Stuhl, immer noch ohnmächtig. Sein Kopf war nach hinten gekippt, so dass er seine Kehle entblößte, und sein Mund stand offen, als wäre er im Sitzen eingeschlafen und würde jeden Augenblick anfangen zu schnarchen. Olivia hatte an einer der Stehlampen einen etwa sechzig Zentimeter langen, dünnen Draht befestigt, der auf Höhe von Scotts Kopf waagerecht abstand. Am Ende des Drahts steckte Scotts abgetrennter Zeigefinger.

Im ersten Moment wusste Hunter nicht, was sie damit bezwecken wollte – bis er den Schatten sah, den die Installation an die Wand warf. Man erkannte deutlich das Profil von Scotts zurückgeneigtem Kopf mit offenem Mund, als stoße er einen Schrei aus. Der abgetrennte Finger am Draht sah einem verformten Zylinder ähnlich. Er war leicht nach unten geneigt und zeigte auf Scotts Kopf, direkt in seinen geöffneten Mund.

In dem Moment erreichte sie der Lärm weit entfernter Polizeisirenen. Hunter hatte vor dem Betreten der Lagerhalle Verstärkung angefordert, doch dem Klang nach zu urteilen, würde es mindestens noch drei bis fünf Minuten dauern, bis sie eintraf. Zu lange.

Olivia musterte Hunter. In ihrer Miene lag eine seltsame Ruhe. »Ich wusste, dass sie kommen würden«, sagte sie und zielte erneut mit der Waffe auf ihn. »Aber ob Sie noch am Leben sein werden, wenn sie hier eintreffen, hängt davon ab, wie schnell Sie das letzte Bild enträtseln können.«

Hunter ließ die Waffe nicht aus den Augen.

»Nicht mich anschauen. Den Schatten.«

Hunter musste sich zwingen, ihr zu gehorchen. Er konzentrierte sich. Auf den ersten Blick sah der Schatten aus wie jemand, der den geöffneten Mund unter eine Art Spender hielt, um daraus zu trinken. Hatte sie etwa vor, Scott etwas einzuflößen? Ihn auf diese Weise zu töten? Aber das wäre eine erhebliche Abweichung von ihrer bisherigen Vorgehensweise. In Hunters Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander.

Der Schuss, der sich aus der Waffe in Olivias Händen löste, war laut wie eine Explosion. Die Kugel schlug wenige Zentimeter von Hunters Kopf entfernt in die Wand ein. Unwillkürlich zuckte er zusammen und ließ die Taschenlampe fallen.

»Kommen Sie, Robert«, mahnte Olivia. »Sie sind doch angeblich so schlau. Ein erfahrener Ermittler. Können Sie nicht unter Druck arbeiten?«

Die Sirenen wurden lauter.

»Die Schatten«, sagte sie. »Sehen Sie sich die Schatten an. Sagen Sie mir, was sie bedeuten. Ihre Zeit läuft ab.«

Hunter bückte sich und hob die Taschenlampe wieder auf. Er starrte angestrengt die Wand an, konnte aber nichts erkennen. Was zum Teufel sollte das Bild darstellen?

Bang!

Der zweite Schuss ging noch näher an seinem Gesicht vorbei. Putzsplitter flogen in alle Richtungen. Einige streiften Hunters Wange und rissen ihm die Haut auf. Er spürte ein Stechen und dann warmes Blut, das aus den Wunden sickerte, doch er hielt die Taschenlampe fest umklammert. Sein Blick war und blieb auf das Schattenbild gerichtet.