»Ich garantiere Ihnen, Detective, der nächste Schuss trifft ins Ziel.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
Hunters Gehirn haderte mit der Erkenntnis, dass er vielleicht in wenigen Sekunden sterben würde, während es gleichzeitig versuchte, verschiedene Interpretationen des Schattenbildes gegeneinander abzuwägen.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Olivia erneut die Waffe hob.
Er konnte nicht denken.
Dann sah er es.
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»Eine Aufnahme!«, rief er, als Olivias Finger sich schon um den Abzug krümmte. Das Bild stellte keinen Getränkespender dar, sondern Scott, wie er in ein Mikrofon sprach. »Sie haben alles aufgenommen. Während er geredet hat, haben Sie ihn auf Band aufgezeichnet. Ein Geständnis.«
Olivia ließ die Waffe sinken. Fast hätten sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. Sie hob die linke Hand, um Hunter den winzigen Digitalrekorder zu zeigen. »Ich habe sie alle aufgenommen. Ich habe jeden Einzelnen gezwungen, mir zu schildern, was damals passiert ist. Die Geschichten gleichen sich aufs Haar. Hier drauf habe ich ihre Stimmen, wie sie mir erzählen, dass sie meine Mutter der Reihe nach geschlagen und vergewaltigt haben, bevor sie sie in Stücke hackten, ihre Leiche in eine Kiste steckten und sie ins Meer warfen. Alle bis auf Andrew Dupek. Sein Kiefer war gebrochen, er konnte nicht sprechen. Aber das alles spielt jetzt keine Rolle mehr.«
Hunter wusste nichts zu sagen.
Scott murmelte etwas Unverständliches. Seine Lider begannen zu zucken.
»Fangen Sie«, rief Olivia und warf Hunter das Aufnahmegerät zu. Er fing es in der Luft auf und starrte es einen Moment lang zweifelnd an, bevor er wieder zu ihr blickte.
»Sie können es behalten«, sagte sie.
»Vielleicht hilft es«, erwiderte Hunter, »aber ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Unser Rechtssystem ist alles andere als perfekt. Wahrscheinlich werden Sie damit nicht allzu viel erreichen, Olivia.«
»Ich weiß. Ich habe schon alles erreicht, was ich erreichen wollte. Ich habe meine Genugtuung bekommen.« Sie deutete auf den Rekorder in Hunters Hand. »Ich habe überlegt, es an die Presse zu schicken, damit die Sache aufgedeckt wird. Nicht meinetwegen – ich weiß, womit ich jetzt zu rechnen habe –, sondern für meine Mutter.« Olivia wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie ihr die Wange hinabrollen konnte. »Sie hat Gerechtigkeit verdient. Machen Sie damit, was Sie für richtig halten.« Sie legte Hunters Pistole auf den Boden und stieß sie mit dem Fuß zu ihm hin.
»Verhaften Sie dieses bekloppte Miststück!«, kreischte Scott auf seinem Stuhl. »Und holen Sie mich hier raus, Sie Vollidiot!« Er begann wild zu zappeln. »Diese Schlampe hat mir einen Finger abgeschnitten, haben Sie das nicht gesehen? Ich sorge dafür, dass du auf den elektrischen Stuhl kommst, hörst du mich, du Miststück? Mein Bruder wird dich vor Gericht in Stücke reißen wie deine Mutter, die Hure!«
Diesmal war Hunter schneller als Olivia. Der kraftvoll ausgeführte Fausthieb traf Scott genau an der Schläfe. Scott sackte zusammen und war still.
»Er redet zu viel«, meinte Hunter achselzuckend zu Olivia. Dann sagte er: »Ihnen ist klar, dass ich Sie festnehmen muss. Das ist meine Pflicht als Detective. Aber ich werde Ihnen keine Handschellen anlegen.«
Diesmal war Olivia diejenige, die verwirrt aussah.
»Ich nehme Sie jetzt mit. Sie können hocherhobenen Hauptes hier rausgehen.« Hunter warf einen Blick auf Scott Bradley. »Aber dem Mistkerl da lege ich definitiv Handschellen an.«
Die Wut war aus Olivias Augen verschwunden. »Sie sind ein guter Mensch, Robert, und ein guter Polizist. Aber ich habe das alles von Anfang an geplant. Für meine Geschichte gibt es nur ein Ende. Den Director’s Cut. Und der beinhaltet keine Festnahme.«
Hunter sah, wie sie sich etwas von der Größe eines Vierteldollarstücks in den Mund warf. Sah, wie ihr Kiefer sich anspannte, und hörte ein Knacken, als sie es zerbiss und dann hinunterschluckte. Er stürzte zu ihr, aber Olivia war bereits zusammengebrochen. Sie hatte das Fünfzigfache der tödlichen Dosis Cyanid geschluckt.
Als das LAPD die Lagerhalle stürmte, hatte ihr Herz längst aufgehört zu schlagen.
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Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte Hunter im Gespräch mit Garcia, Captain Blake und Alice. Er musste ihnen haarklein berichten, was sich seit dem vergangenen Abend zugetragen hatte.
»Ich muss gestehen«, meinte Alice zu Hunter. »Als du mich angerufen und mir gesagt hast, ich soll mich in die Datenbank der Sozialbehörden einhacken und nach Adoptionsunterlagen für Olivia Nicholson suchen, fand ich das ziemlich eigenartig. Trotzdem bin ich nie auf die Idee gekommen, sie könnte eine Verdächtige sein. Das Einzige, was mir bei meinen Recherchen komisch vorkam, war, wie schnell die Adoption damals über die Bühne gegangen ist. Die kalifornischen Adoptionsgesetze sind relativ lax«, fuhr sie erklärend fort. »Die einzige Voraussetzung ist, dass der Adoptierte mindestens zehn Jahre jünger sein muss als der Adoptierende. Derek Nicholson hatte gerade sein Jura-Examen gemacht. Er hatte Freunde an wichtigen Stellen. Er kannte überhaupt viele Leute.«
»Richter«, sagte Garcia.
»Unter anderem. Mit den richtigen Beziehungen und seinem juristischen Fachwissen hat er es geschafft, alles innerhalb von kürzester Zeit abzuwickeln. In der Regel dauert eine Adoption in Kalifornien zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Derek Nicholson hat weniger als neunzig Tage gebraucht, um alle notwendigen Unterlagen zu beschaffen und anerkennen zu lassen. Es wurden keine Fragen gestellt, alles hatte scheinbar seine Ordnung.«
»Man muss das Gesetz kennen, um es zu umgehen«, merkte Hunter an.
»Das ist wahr«, pflichtete Alice ihm bei. »Und wenn man einflussreiche Freunde hat, ist alles möglich.«
»Okay, aber woher hast du gewusst, dass Olivia sich heute Abend ihr nächstes Opfer holen würde?«, fragte Garcia.
»Gewusst habe ich es nicht. Ich hatte lediglich einen Verdacht, also habe ich es mit einem kleinen Bluff probiert.« Hunter fuhr sich mit den Fingerspitzen über die zwei Wunden auf seiner linken Wange. Einen Verband hatte er abgelehnt.
»Einem kleinen Bluff?«, fragte Captain Blake.
»Ich bin heute früh bei Olivia vorbeigefahren, unter dem Vorwand, dass ich neue Informationen hätte und ihr noch ein paar Fragen stellen müsste. Als Garcia und ich gestern Abend bei Olivia und ihrer Schwester zu Besuch waren, habe ich sie um ein altes Foto von ihrem Vater gebeten. Allison hatte ein Hochzeitsfoto im Wohnzimmer stehen, allerdings war Olivia diejenige, die es mir gegeben hat. Als sie es in der Hand hatte und es sich angeschaut hat, habe ich etwas in ihren Augen bemerkt – eine sehr starke Emotion, die ich zu dem Zeitpunkt noch für Trauer gehalten habe. Als ich heute Morgen dann noch mal bei ihr war, habe ich ihr das Bild zurückgegeben, und da war genau derselbe Ausdruck. Aber es war keine Trauer. Es war irgendwas viel Tiefersitzendes, viel Schmerzhafteres.« Hunter rieb sich flüchtig die Augen. »Also habe ich sie ganz spontan gefragt, ob ihr Vater mit ihr oder ihrer Schwester früher manchmal Schattentheater gespielt hat.«
»Und hast ihr damit zu verstehen gegeben, dass wir die wahre Bedeutung hinter den Skulpturen kennen«, konstatierte Alice.
Hunter nickte. »Aber Olivia ist ganz ruhig geblieben. Sie hat sich nichts anmerken lassen, nur so getan, als fände sie die Frage seltsam. Dann wollte ich noch von ihr wissen, ob ihre Mutter jemals mit ihr Schattentheater gespielt hätte, und dabei hat ihre Fassade für einen ganz kurzen Moment angefangen zu bröckeln. Ihr Blick hat sich verschleiert, und ihr Gesicht wurde ganz weich und zärtlich, bevor es dann plötzlich so hart wurde, wie ich es bis dahin überhaupt nicht von ihr kannte. Da habe ich beschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Ich habe behauptet, dass es in der Nacht eine entscheidende Wende bei den Ermittlungen gegeben hätte. Wir wären jetzt sicher, dass der Täter nur noch einen weiteren Namen auf seiner Todesliste hätte. Ich habe ihr gesagt, dass wir den Namen dieses letzten Opfers innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden herausfinden würden. Und ab dann würde er rund um die Uhr unter Polizeischutz stehen.«