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Als es tatsächlich zu viele Bücher gewesen sind, um weiterzuziehen, hat das Schicksal seinen Lauf genommen. Eine Müllerstochter hat ihm gefallen, sie war gut anzusehen, und lustig war sie auch, und Kraft hatte sie, und dass sie ihn mochte, konnte ein Blinder sehen. Sie zu gewinnen ist nicht schwer gewesen, im Tanzen war er gut, und die richtigen Sprüche und Kräuter, um ein Herz zu binden, hat er gekannt, überhaupt hat er mehr gewusst als jeder andere im Dorf, das hat ihr gefallen. Der Vater hat zunächst Zweifel gehabt, aber keiner der anderen Knechte hat ausgesehen, als ob er die Mühle übernehmen könnte, also hat er nachgegeben. Und eine Weile ist auch alles gut gewesen.

Dann hat er ihre Enttäuschung gespürt. Erst manchmal, dann öfter. Und dann ständig. Sie hat seine Bücher nicht gemocht, sie hat nicht gemocht, dass er die Rätsel der Welt lösen muss, und es stimmt ja auch, es ist eine große Aufgabe, die lässt einem nicht viel Kraft für anderes, schon gar nicht für den täglichen Mühlentrott. Plötzlich ist es auch Claus wie ein Fehler vorgekommen: Was tu ich hier, was habe ich mit den Mehlwolken zu schaffen, was mit den stumpfsinnigen Bauern, die einen immer betrügen wollen beim Bezahlen, was mit dem begriffsstutzigen Gesinde, das nie macht, was man ihm

aufträgt? Andererseits, so sagt er sich oft, führt das Leben einen eben irgendwohin - wärst du nicht hier, so wärst du anderswo, und alles wäre gerade ebenso seltsam. Wirklich Sorgen bereitet ihm allerdings die Frage, ob man wohl in die Hölle kommt, wenn man so viele Bücher gestohlen hat.

Aber man muss das Wissen nun mal packen, wo es sich finden lässt, man ist doch nicht bestimmt dafür, ahnungslos zu vegetieren. Und wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann, ist es nicht leicht. So viel beschäftigt dich, aber keiner will sie hören, deine Gedanken darüber, was der Himmel ist und wie die Steine entstehen und wie die Fliegen und das überall wimmelnde Leben und in welcher Sprache die Engel miteinander reden und wie Gott der Herr sich selbst geschaffen hat und sich immer noch schaffen muss, Tag für Tag, denn täte er es nicht, hörte alles von einem Moment zum nächsten auf - wer, wenn nicht Gott, sollte die Welt daran hindern, einfach nicht zu sein?

Für manche Bücher hat Claus Monate gebraucht, für andere Jahre. Manche kennt er auswendig und versteht sie trotzdem nicht. Und mindestens einmal im Monat kehrt er ratlos zu dem dicken lateinischen Werk zurück, das er aus einer brennenden Pfarrei in Trier gestohlen hat. Es war nicht er, der das Feuer gelegt hat, aber er war in der Nähe und hat den Rauch gerochen und die Gelegenheit ergriffen. Ohne ihn wäre das Buch verbrannt. Er hat ein Recht darauf. Doch lesen kann er es nicht.

Siebenhundertfünfundsechzig Seiten sind es, in enger Schrift

bedruckt, und einige haben auch Bilder, die aus üblen Träumen zu stammen scheinen: Männer mit Vogelköpfen, eine Stadt mit Zinnen und hohen Türmen auf einer Wolke, aus der in dünnen Strichen Regen fällt, ein Pferd mit zwei Köpfen auf einer Waldlichtung, ein Insekt mit langen Flügeln, eine Schildkröte, die auf einem Sonnenstrahl gen Himmel klettert. Das erste Blatt, auf dem wohl einmal der Buchtitel stand, fehlt; ebenso hat jemand das Blatt mit den Seiten dreiundzwanzig und vierundzwanzig sowie jenes mit den Seiten fünfhundertneunzehn und fünfhundertzwanzig herausgerissen. Dreimal schon ist Claus mit dem Buch beim Priester gewesen und hat um Hilfe gebeten, aber jedes Mal hat der ihn rüde fortgeschickt und erklärt, dass es nur Menschen von Bildung zustehe, sich mit lateinischen Schriften zu befassen. Zunächst hat Claus erwogen, ihm eine milde Verwünschung auf den Hals zu schicken - Rheuma oder eine Mäuseplage im Pfarrhaus oder schlechte Milch -, doch dann hat er begriffen, dass der arme Dorfpriester, der zu viel trinkt und sich in der Predigt ständig wiederholt, in Wahrheit selber kaum Latein versteht. So hat er sich beinahe damit abgefunden, dass er genau dieses eine Buch, das womöglich den Schlüssel zu allem enthält, nie wird lesen können. Denn wer könnte ihm hier, in einer gottverlassenen Mühle, Latein beibringen?

Trotzdem, in den letzten Jahren hat er eine Menge herausgefunden. Im Wesentlichen weiß er inzwischen, woher die Dinge kommen, wie die Welt entstanden ist und warum alles so ist, wie es ist: die Geister, die Stoffe, die Seelen, das

Holz, das Wasser, der Himmel, das Leder, das Korn, die Grillen. Hüttner wäre stolz auf ihn. Nicht mehr lange, dann wird er die letzten Lücken geschlossen haben. Dann wird er selbst ein Buch schreiben, in dem alle Antworten stehen, und dann werden die Gelehrten in ihren Universitäten sich wundern und schämen und sich die Haare raufen.

Aber leicht wird das nicht. Seine Hände sind groß, und der dünne Federkiel zerbricht ihm immer wieder zwischen den Fingern. Er wird viel üben müssen, bevor er ein ganzes Buch mit den Spinnenzeichen aus Tinte füllen kann. Aber es muss sein, denn er kann all das, was er herausgefunden hat, nicht für immer im Gedächtnis halten. Es ist schon zu viel, es schmerzt ihn, oft ist ihm schwindlig von all dem Wissen im Kopf.

Vielleicht wird er irgendwann seinem Sohn etwas beibringen können. Er hat gemerkt, dass ihm der Junge beim Essen manchmal zuhört, wider Willen fast und bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Dünn und zu schwach ist er, aber er scheint klug zu sein. Vor kurzem hat Claus ihn dabei ertappt, wie er mit drei Steinen jongliert hat, ganz leicht und ohne Mühe - reiner Unsinn, aber doch auch ein Zeichen, dass das Kind vielleicht nicht so stumpf ist wie die anderen. Neulich hat der Junge ihn gefragt, wie viele Sterne es eigentlich gibt, und da er erst vor kurzem nachgezählt hat, hat er ihm nicht ohne Stolz eine Antwort geben können. Er hofft, dass das Kind, das Agneta trägt, wieder ein Junge wird; mit etwas Glück sogar einer, der kräftiger ist, damit er ihm besser bei der Arbeit hilft,

und dem er dann auch etwas beibringen kann.

Der Bretterboden ist zu hart. Aber würde er weicher liegen, schliefe er ein und könnte nicht den Mond beobachten. Mühevoll hat Claus im schrägen Dachfenster ein Gitter aus dünnen Fäden angebracht - seine Finger sind dick und schwerfällig, und die von Agneta gesponnene Wolle ist widerspenstig. Doch schließlich hat er es geschafft, das Fenster in kleine und fast gleich große Vierecke zu unterteilen.

So liegt er also und starrt. Zeit vergeht. Er gähnt. Tränen treten ihm in die Augen. Du darfst nicht einschlafen, sagt er sich, du darfst um keinen Preis einschlafen!

Und endlich ist da der Mond, silbern und beinahe rund, mit Flecken wie von schmutzigem Kupfer. In der untersten Reihe ist er aufgetaucht, doch nicht im ersten Viereck, wie Claus es erwartet hätte, sondern im zweiten. Wieso nur? Er blinzelt. Seine Augen schmerzen. Er kämpft gegen den Schlaf und nickt ein und ist wieder wach und nickt wieder ein, aber nun ist er doch wach und blinzelt, und der Mond steht nicht mehr in der zweiten, sondern in der dritten Reihe von unten, im zweiten Viereck von links. Wie ist das passiert? Leider sind die Vierecke ungleich groß, weil die Wolle fasert, daher sind die Knoten zu dick geraten - aber warum verhält der Mond sich so? Es ist ein gemeines Gestirn, tückisch und verlogen; nicht zufällig steht sein Bild in den Karten für Untergang und Verrat. Um aufzuzeichnen, wann der Mond wo ist, muss man außerdem die Zeit wissen, aber woran, bei allen Teufeln, soll man die Zeit ablesen, wenn nicht am Stand des Mondes? Ganz verrückt

kann einen das machen! Hinzu kommt, dass gerade einer der Fäden sich gelöst hat; Claus richtet sich auf und versucht, ihn mit störrischen Fingern festzuknoten. Und kaum ist ihm das endlich gelungen, zieht eine Wolke auf. Das Licht schimmert fahl um ihre Ränder, aber wo genau der Mond steht, lässt sich nicht mehr sagen. Er schließt die schmerzenden Augen.