«Zwei Wanderer», ruft eine Stimme. «In Christi Namen, macht auf.»
Claus erhebt sich, geht zur Tür und schiebt den Riegel zur Seite.
Ein Mann tritt ein. Er ist nicht mehr jung, aber er sieht kräftig aus. Seine Haare und sein Bart sind triefend nass,
Regenwasser perlt auf dem dicken grauen Leinenstoff seines Mantels. Ihm folgt ein zweiter, viel jüngerer Mann. Der blickt sich um, und als er den Jungen sieht, geht ein Lächeln über sein Gesicht. Es ist der Fremde von heute Mittag.
«Ich bin Doktor Oswald Tesimond von der Gesellschaft Jesu», sagt der Ältere. «Das ist Doktor Kircher. Man hat uns eingeladen.»
«Eingeladen?», fragt Agneta.
«Gesellschaft Jesu?», fragt Claus.
«Wir sind Jesuiten.»
«Jesuiten», wiederholt Claus. «Wirkliche, wahrhaftige Jesuiten?»
Agneta bringt zwei Hocker an den Tisch, die anderen rücken zusammen.
Claus macht eine ungeschickte Verbeugung. Er sei Claus Ulenspiegel, sagt er, und das sei seine Frau und das sein Sohn und das sein Gesinde. Sie bekämen selten Besuch hoher Herren. Es sei eine Ehre. Viel gebe es nicht, aber was man habe, stehe zur Verfügung. Hier die Grütze, da das Dünnbier und im Krug noch etwas Milch. Er räuspert sich. «Darf ich fragen, ob Ihr Gelehrte seid?»
«Das will ich meinen», antwortet Doktor Tesimond und nimmt mit spitzen Fingern einen Löffel. «Ich bin Doktor der Medizin und der Theologie, außerdem ein Chemikus mit dem Fachgebiet Drakontologie. Doktor Kircher beschäftigt sich mit den okkulten Zeichen, mit der Kristallkunde und dem Wesen der Musik.» Er isst etwas Grütze, verzieht das Gesicht und legt
den Löffel weg.
Für einen Moment ist es still. Dann beugt Claus sich vor und fragt, ob es ihm erlaubt sei, eine Frage zu stellen.
«Mit Gewissheit», sagt Doktor Tesimond. Etwas daran, wie er spricht, ist ungewöhnlich: Manche Wörter in seinen Sätzen stehen nicht dort, wo man sie erwarten würde, auch betont er sie anders; es klingt, als hätte er kleine Steine im Mund.
«Was ist Drakontologie?», fragt Claus. Sogar im schwachen Licht der Talgkerze kann man erkennen, dass seine Wangen rot angelaufen sind.
«Die Lehre vom Wesen der Drachen.»
Die Knechte heben die Köpfe. Die Magd lässt den Mund offen stehen.
Dem Jungen wird heiß. «Habt Ihr welche gesehen?», fragt er.
Doktor Tesimond runzelt die Stirn, als hätte ein unschönes Geräusch ihn gestört.
Doktor Kircher blickt zum Jungen und schüttelt den Kopf.
Er bitte um Entschuldigung, sagt Claus. Das sei ein einfaches Haus, sein Sohn könne sich nicht benehmen und vergesse manchmal, dass ein Kind ruhig zu sein habe, wenn Erwachsene sprächen. Aber die Frage sei doch auch ihm gekommen. «Habt Ihr welche gesehen?»
Er höre diese amüsante Frage nicht zum ersten Mal, sagt Doktor Tesimond. In der Tat begegne jeder Drakontologe ihr regelmäßig beim einfachen Volk. «Aber Drachen sind selten. Sie sind sehr ... Wie heißt es noch?»
«Scheu», sagt Doktor Kircher.
Deutsch sei nicht seine Muttersprache, sagt Doktor Tesimond, er müsse sich entschuldigen, manchmal falle er ins Idiom seiner über alles geliebten Heimat, die er im Leben nicht mehr sehen werde: England, die Insel der Äpfel und des Morgennebels. Ja, die Drachen seien unvorstellbar scheu und zu verblüffenden Kunststücken der Tarnung fähig. Man könne hundert Jahre suchen und doch nie in die Nähe eines Drachen kommen. Ebenso könne man hundert Jahre in unmittelbarer Nähe eines Drachen verbringen und ihn nie bemerken. Ebendeshalb brauche man die Drakontologie. Denn die medizinische Wissenschaft könne nicht verzichten auf die Heilkraft ihres Blutes.
Claus reibt sich die Stirn. «Woher habt Ihr denn das Blut?»
«Das Blut haben wir natürlich nicht. Medizin ist die Kunst ... Wie heißt es?»
«Der Substitution», sagt Doktor Kircher.
Jawohl, Drachenblut sei eine Substanz von solcher Mächtigkeit, dass man des Stoffes selbst nicht bedürfe. Es reiche, dass der Stoff in der Welt sei. In seiner geliebten Heimat gebe es noch zwei Drachen, aber aufgespürt habe sie seit Jahrhunderten kein Mensch.
«Regenwurm und Engerling», sagt Doktor Kircher, «sehen dem Drachen ähnlich. Zu feiner Substanz zerstoßen, kann ihr Körper Erstaunliches bewirken. Drachenblut vermag den Menschen unverwundbar zu machen, aber ersatzweise kann zerriebener Zinnober ob seiner Ähnlichkeit immerhin Hautkrankheiten kurieren. Zinnober ist ebenfalls schwer zu bekommen, doch Zinnober wiederum ersetzt man durch alle Kräuter mit drachenhaft geschuppter Oberfläche. Heilkunst ist Substitution nach dem Prinzip der Ähnlichkeit - Krokus kuriert Augenkrankheiten, weil er aussieht wie ein Auge.»
«Je mehr ein Drakontologe von seinem Geschäft versteht», sagt Doktor Tesimond, «desto besser kann er die Absenz des Drachen durch Substitution ausgleichen. Die höchste Weihe aber liegt darin, nicht den Körper des Drachen, sondern sein ... Wie ist das Wort?»
«Wissen», sagt Doktor Kircher.
«Sein Wissen zu nützen. Schon Plinius berichtet, dass Drachen ein Kraut kennen, mit dessen Hilfe sie tote Artgenossen wiederbeleben. Dieses Kraut zu finden wäre der heilige Gral unserer Wissenschaft.»
«Aber woher weiß man, dass es Drachen gibt?», fragt der Junge.
Doktor Tesimond runzelt die Stirn. Claus beugt sich vor und gibt seinem Sohn eine Ohrfeige.
«Wegen der Wirksamkeit der Substitute», sagt Doktor Kircher. «Woher soll denn ein mickriges Tier wie der Egerling Heilkraft haben, wenn nicht durch seine Ähnlichkeit mit dem Drachen! Warum kann der Zinnober heilen, wenn nicht deshalb, weil er dunkelrot ist wie Drachenblut!»
«Noch eine Frage», sagt Claus. «Wenn ich schon mit gelehrten Leuten rede . Wenn ich schon die Möglichkeit habe .»
«Bitte», sagt Doktor Tesimond.
«Ein Haufen Körner. Wenn man immer nur eines wegnimmt. Es treibt mich in den Wahnsinn.»
Die Knechte lachen.
«Ein bekanntes Problem», sagt Doktor Tesimond. Er macht eine auffordernde Bewegung in Richtung Doktor Kirchers.
«Wo ein Ding ist, kann kein anderes sein», sagt Doktor Kircher, «aber zwei Wörter schließen einander nicht aus. Zwischen einem Ding, das ein Kornhaufen ist, und einem Ding, das kein Kornhaufen ist, ist keine scharfe Grenze gezogen. Die Haufennatur verblasst nach und nach, vergleichbar einer Wolke, die sich auflöst.»
«Ja», sagt Claus wie zu sich selbst. «Ja. Nein, nein. Denn ... Nein! Aus einem Fingernagel Holz kann man keinen Tisch machen. Keinen, den man verwenden kann. Es ist zu wenig. Es geht nicht. Auch nicht aus zwei Fingernägeln Holz. Zu wenig Holz, um daraus einen Tisch zu machen, wird nie zu genügend Holz, nur weil man eine Winzigkeit hinzutut!»
Die Gäste schweigen. Alle hören dem Regen und dem Kratzen der Löffel und dem Wind zu, der am Fensterladen rüttelt.
«Eine gute Frage», sagt Doktor Tesimond und blickt Doktor Kircher auffordernd an.
«Dinge sind, was sie sind», sagt Doktor Kircher, «aber Vagheit ist tief eingeschlossen ins Innere unserer Begriffe. Es ist eben nicht immer klar, ob ein Ding ein Berg ist oder kein Berg, eine Blume oder keine Blume, ein Schuh oder kein Schuh oder eben ein Tisch oder kein Tisch. Deshalb spricht Gott,
wenn er Klarheit will, in Zahlen.»
«Es ist ungewöhnlich, dass ein Müller sich für solche Fragen interessiert», sagt Doktor Tesimond. «Oder für so etwas.» Er zeigt auf die über dem Türstock eingeschnitzten Pentagramme.
«Die halten die Dämonen ab», sagt Claus.
«Und die schnitzt man einfach so ein? Das reicht?»
«Man braucht die richtigen Worte.»
«Halt den Mund», sagt Agneta.
«Aber das ist doch schwierig mit den Worten», sagt Doktor Tesimond. «Mit den ...» Er sieht Doktor Kircher fragend an.
«Sprüchen», sagt Doktor Kircher.
«Genau», sagt Doktor Tesimond, «ist das nicht gefährlich? Man sagt, dass die gleichen Worte, die Dämonen bannen, diese unter gewissen Bedingungen auch anlocken.»