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«Das sind andere Sprüche. Die kenne ich auch. Keine Sorge. Die kann ich unterscheiden.»

«Sei ruhig», sagt Agneta.

«Und für was interessiert so ein Müller sich denn noch? Was beschäftigt ihn, was will er wissen? Wie kann man dir noch . helfen?»

«Na, mit den Blättern», sagt Claus.

«Halt den Mund!», sagt Agneta.

«Vor ein paar Monaten habe ich bei der alten Eiche auf Jakob Brantners Feld zwei Blätter gefunden. Eigentlich ist es nicht das Feld vom Brantner, es hat immer den Losers gehört, aber der Schultheiß hat im Erbschaftsstreit entschieden, dass es ein Brantner-Feld ist. Egal, die Blätter jedenfalls haben ganz gleich

ausgesehen.»

«Es ist sehr wohl das Feld vom Brantner», sagt Sepp, der ein Jahr lang Knecht auf dem Brantner-Hof gewesen ist. «Die Losers sind Lügner, die der Teufel holen wird.»

«Wenn es hier einen Lügner gibt», sagt die Magd, «dann ist es der Jakob Brantner. Man muss nur sehen, wie der die Frauen anschaut in der Kirche.»

«Aber das Feld gehört ihm doch», sagt Sepp.

Claus schlägt auf den Tisch, alle verstummen.

«Die Blätter. Die haben gleich ausgesehen, jede Ader, jeder Riss. Ich habe sie getrocknet, ich kann sie zeigen. Ich habe sogar dem Händler eine Lupe abgekauft, als er durchs Dorf gekommen ist, um sie besser ansehen zu können. Der Händler kommt nicht oft, er heißt Hugo, er hat an der linken Hand nur zwei Finger, und wenn man ihn fragt, wie er die anderen verloren hat, sagt er: Herr Müller, es sind bloß Finger!» Claus denkt kurz nach, verblüfft darüber, wo der Fluss seiner Rede ihn hingetragen hat. «Als sie da also vor mir gelegen haben, die beiden Blätter, da habe ich mich auf einmal gefragt, ob das nicht bedeutet, dass sie eigentlich eines sind. Wenn der Unterschied nur darin besteht, dass das eine Blatt links und das andere rechts liegt - da braucht man ja bloß eine Handbewegung zu machen.» Er zeigt es mit so unbeholfener Geste, dass ein Löffel nach der einen und eine Schüssel nach der anderen Seite fliegt. «Man stelle sich vor, einer sagt nun, dass beide Blätter ein und dasselbe sind, was soll man ihm antworten? Er hätte doch recht!» Claus pocht auf den Tisch,

aber alle außer Agneta, die ihn unverwandt und beschwörend ansieht, folgen mit den Augen der rollenden Schüssel, die einen und noch einen Kreis beschreibt und dann liegen bleibt. «Diese zwei Blätter also», sagt Claus in die Stille. «Wenn sie nur zum Schein zwei Blätter und in Wahrheit eines sind, heißt das nicht, dass . all das Hier und Dort und Da nur ein Netz ist, das Gott geknüpft hat, damit wir nicht seine Geheimnisse durchschauen?»

«Du musst jetzt still sein», sagt Agneta.

«Und weil wir von Geheimnissen sprechen», sagt Claus. «Ich habe ein Buch, das ich nicht lesen kann.»

«Es gibt keine zwei gleichen Blätter in der Schöpfung», sagt Doktor Kircher. «Es gibt nicht einmal zwei gleiche Körner Sand. Keine zwei Dinge, zwischen denen Gott nicht Unterschiede erkennt.»

«Die Blätter sind oben, ich kann sie zeigen! Und das Buch kann ich auch zeigen! Und das mit dem Engerling stimmt nicht, ehrwürdiger Herr, zerstoßener Engerling kann nicht heilen, sondern macht Rückenschmerz und kalte Gelenke.» Claus gibt seinem Sohn ein Zeichen. «Hol das große Buch, das ohne Einband, das mit den Bildern!»

Der Junge steht auf und läuft zur Leiter, die nach oben führt. Er klettert blitzschnell, schon ist er durch die Luke verschwunden.

«Du hast einen guten Sohn», sagt Doktor Kircher.

Claus nickt zerstreut.

«Wie dem auch sei», sagt Doktor Tesimond. «Es ist spät, und

wir müssen vor Einbruch der Nacht im Dorf sein. Kommst du, Müller?»

Claus sieht ihn verständnislos an. Die beiden Gäste stehen auf.

«Du Trottel», sagt Agneta.

«Wohin?», fragt Claus. «Warum?»

«Kein Grund, sich Sorgen zu machen», sagt Doktor Tesimond. «Wir wollen nur sprechen, ausführlich und in Ruhe. Das hast du doch gewollt, Müller. In Ruhe. Über alles, was dich beschäftigt. Sehen wir wie böse Leute aus?»

«Aber ich kann nicht», sagt Claus. «Übermorgen kommt der Steger und will sein Korn. Es ist noch nicht gemahlen, ich habe es oben in der Kammer, die Zeit drängt.»

«Das sind gute Knechte», sagt Doktor Tesimond. «Auf die kann man sich verlassen, die Arbeit wird getan.»

«Wer seinen Freunden nicht folgen will», sagt Doktor Kircher, «muss damit rechnen, es einmal mit Leuten zu tun zu haben, die nicht seine Freunde sind. Man hat zusammen gespeist, hat zusammen in der Mühle gesessen. Man kann einander vertrauen.»

«Dieses lateinische Buch», sagt Doktor Tesimond. «Ich will es sehen. Wenn es Fragen gibt, können wir antworten.»

Alle warten auf den Jungen, der sich oben durch die dunkle Dachstube tastet. Es dauert eine Weile, bis er neben dem Kornhaufen das richtige Buch gefunden hat. Als er wieder hinunterklettert, stehen sein Vater und die Gäste schon in der Tür.

Er reicht Claus das Buch, der streicht ihm über den Kopf, dann bückt er sich und küsst ihn auf die Stirn. Im letzten Tageslicht sieht der Junge die kleinen, scharfen Fältchen seines Vaters. Er sieht das Flackern in seinen unruhigen Augen, die immer nur kurz auf ein Ding blicken können, er sieht die weißen Haare im schwarzen Bart.

Und während Claus auf seinen Sohn hinunterblickt, wundert es ihn, dass ihm so viele Kinder bei der Geburt gestorben sind, dass aber ausgerechnet dieses eine überlebt hat. Er hat sich zu wenig für den Jungen interessiert, er war einfach zu sehr daran gewöhnt, dass sie alle gleich wieder verschwinden. Aber das wird sich ändern, denkt Claus, ich werde ihm beibringen, was ich weiß, die Sprüche, die Quadrate, die Kräuter und den Lauf des Mondes. Fröhlich nimmt er das Buch und tritt in den Abend hinaus. Der Regen hat aufgehört.

Agneta hält ihn fest. Sie umarmen einander lange. Claus will loslassen, aber Agneta hält ihn noch. Die Knechte kichern.

«Du bist bald zurück», sagt Doktor Tesimond.

«Da hörst du es», sagt Claus.

«Du Trottel», sagt Agneta und weint.

Plötzlich ist Claus all das peinlich - die Mühle, die schluchzende Frau, der dürre Sohn, sein ganzes armes Dasein. Resolut schiebt er Agneta von sich. Es gefällt ihm, dass er nun gemeinsame Sache mit den gelehrten Männern machen darf, denen er sich näher fühlt als diesen Mühlenmenschen, die nichts wissen.

«Keine Angst», sagt er zu Doktor Tesimond. «Ich finde den

Weg auch im Dunkeln.»

Claus geht mit großen Schritten los, die beiden Männer folgen ihm. Agneta sieht ihnen nach, bis die Dämmerung sie verschluckt.

«Geh rein», sagt sie zu dem Jungen.

«Wann kommt er zurück?»

Sie schließt die Tür und legt den Riegel vor.

Doktor Kircher öffnet die Augen. Jemand ist im Zimmer. Er horcht. Nein, hier ist keiner außer Doktor Tesimond, dessen Schnarchen er von drüben aus dem Bett hört. Er schlägt die Decke zurück, bekreuzigt sich und steht auf. Es ist so weit. Gerichtstag.

Zu allem Überfluss hat er wieder von ägyptischen Zeichen geträumt. Eine lehmgelbe Mauer, darin Männchen mit Hundeköpfen, Löwen mit Flügeln, Äxte, Schwerter, Lanzen, Wellenlinien aller Art. Kein Mensch versteht sie, das Wissen um sie ist verlorengegangen, bis ein begnadeter Geist auftreten wird, sie wieder zu entschlüsseln.

Das wird er sein. Eines Tages.

Sein Rücken schmerzt wie jeden Morgen. Der Strohsack, auf dem er schlafen muss, ist dünn, der Boden eiskalt. Es gibt nur ein Bett im Pfarrhaus, und in dem schläft sein Mentor, selbst der Pfarrer muss nebenan auf dem Boden liegen. Immerhin ist sein Mentor diese Nacht nicht aufgewacht. Oft schreit er im Schlaf, und manchmal zieht er das unterm Kissen versteckte Messer hervor und denkt, es ginge ihm ans Leben. Wenn das geschieht, hat er wieder von der großen Verschwörung geträumt, damals in England, als es ihm und ein paar mutigen Leuten fast gelungen wäre, den König in die Luft zu sprengen. Der Versuch ist fehlgeschlagen, aber sie haben nicht aufgegeben: Tagelang haben sie nach der Prinzessin Elisabeth gesucht, um sie zu entführen und mit Gewalt auf den Thron zu setzen. Es hätte gelingen können, und wäre es gelungen, so wäre die Insel heute wieder im Besitz des rechten Glaubens. Wochenlang hat Doktor Tesimond damals in den Wäldern gelebt, von Wurzeln und Quellwasser, als Einziger ist er entkommen und hat es übers Meer geschafft. Später wird man ihn heiligsprechen, aber nachts sollte man nicht in seiner Nähe liegen, denn das Messer ist immer unter seinem Kissen, und in seinen Träumen schwärmen protestantische Schinder aus.