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Doktor Kircher wirft seinen Mantel über und verlässt das Pfarrhaus. Benommen steht er in der Fahlheit des frühen Morgens. Rechts von ihm ist die Kirche, vor ihm der Hauptplatz mit Brunnen und Linde und dem gestern errichteten Podium, daneben die Häuser der Tamms, Henrichs und Heinerlings, er kennt jetzt alle Bewohner dieses Dorfs, er hat sie einvernommen, er weiß um ihre Geheimnisse. Etwas bewegt sich auf dem Dach des Henrich-Hauses, instinktiv weicht er zurück, aber es ist wahrscheinlich nur eine Katze. Er murmelt einen Abwehrsegen und schlägt dreimal das Kreuz, geh hin, böser Geist, lass ab, ich stehe unter dem Schutz des Herrn und der Jungfrau und aller Heiligen. Dann setzt er sich, lehnt sich an die Wand des Pfarrhauses und wartet mit klappernden Zähnen auf die Sonne.

Er merkt, dass jemand neben ihm sitzt. Lautlos muss der sich genähert, lautlos sich hingesetzt haben. Es ist Meister Tilman.

«Guten Morgen», murmelt Doktor Kircher und erschrickt. Das war ein Fehler, nun könnte Meister Tilman zurückgrüßen.

Zu seinem Entsetzen geschieht das auch. «Guten Morgen!»

Doktor Kircher blickt sich nach allen Seiten um. Zum Glück ist niemand zu sehen, das Dorf schläft noch, keiner beobachtet sie.

«Diese Kälte», sagt Meister Tilman.

«Ja», sagt Doktor Kircher, denn irgendwas muss man ja sagen. «Schlimm.»

«Und wird jedes Jahr schlimmer», sagt Meister Tilman.

Sie schweigen.

Doktor Kircher weiß, dass es am besten wäre, nicht zu antworten, aber die Stille ist lastend, also räuspert er sich und sagt: «Die Welt geht zu Ende.»

Meister Tilman spuckt auf den Boden. «Und wie lange noch?»

«Wohl so hundert Jahre», sagt Doktor Kircher und blickt weiter unbehaglich um sich. «Manche meinen, etwas weniger, während andere glauben, dass es um die hundertzwanzig sein werden.»

Er verstummt, spürt einen Kloß im Hals. Das passiert ihm jedes Mal, wenn er von der Apokalypse spricht. Er bekreuzigt sich, Meister Tilman tut es ihm nach.

Der arme Mann, denkt Doktor Kircher. Eigentlich braucht kein Henker das Jüngste Gericht zu fürchten, da die Verurteilten ihren Scharfrichtern vor dem Tod vergeben müssen, aber dann und wann gibt es Verstockte, die sich weigern, und zuweilen geschieht es sogar, dass einer seinen Henker ins Tal Josaphat bestellt. Jeder kennt diesen Fluch: Ich bestelle dich ins Tal Josaphat. Wer das zum Henker sagt, beschuldigt ihn des Mordes und verweigert die Vergebung. Ob Meister Tilman das schon passiert ist?

«Ihr fragt Euch, ob ich Angst vor dem Gericht habe.»

«Nein!»

«Ob einer mich ins Tal Josaphat bestellt hat.»

«Nein!»

«Jeder fragt sich das. Wisst Ihr, ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich bin, was ich bin, weil mein Vater war, was er war. Und der war es wegen seines Vaters. Und mein Sohn wird sein müssen, was ich bin, denn ein Henkerssohn wird Henker.» Meister Tilman spuckt wieder aus. «Mein Sohn ist ein sanfter Kerl. Ich schaue ihn an, er ist erst acht und ganz lieb, und Töten passt nicht zu ihm. Aber er hat keine Wahl. Zu mir hat es auch nicht gepasst. Und ich hab es gelernt, und gar nicht schlecht.»

Doktor Kircher ist jetzt wirklich besorgt. Keinesfalls darf jemand sehen, wie er hier einträchtig mit dem Henker plaudert.

Am Himmel breitet sich weißliche Helligkeit aus, an den Hauswänden sind bereits die Farben zu unterscheiden. Auch das Podium drüben vor der Linde kann man schon deutlich erkennen. Dahinter steht, nur ein unscharfer Fleck in der Dämmerung, der Pferdewagen des Moritatensängers, der vor zwei Tagen angereist ist. So ist es immer: Wenn es etwas zu sehen gibt, versammelt sich das fahrende Volk.

«Gottlob gibt es in diesem Dreckloch keine Schänke», sagt

Meister Tilman. «Denn wenn es eine gibt, gehe ich abends hin, aber dann sitze ich allein, und alle schielen herüber und flüstern. Und obwohl ich es vorher weiß, gehe ich trotzdem in die Schänke, denn wohin soll ich sonst? Ich kann es nicht erwarten, wieder nach Eichstätt zu kommen.»

«Behandelt man Euch da besser?»

«Nein, aber da bin ich zu Hause. Zu Hause schlecht behandelt zu werden ist besser, als anderswo schlecht behandelt zu werden.» Meister Tilman hebt die Arme und streckt sich gähnend.

Doktor Kircher zuckt zur Seite. Die Hand des Henkers ist nur wenige Zoll von seiner Schulter entfernt, es darf nicht zu einer Berührung kommen. Wen ein Henker anfasst, und sei es auch nur im Vorbeigehen, der verliert seine Ehre. Aber natürlich darf man ihn auch nicht gegen sich aufbringen. Verärgert man ihn, könnte er einen absichtlich packen und die Strafe in Kauf nehmen. Doktor Kircher verflucht sich für seine Gutmütigkeit - nie hätte er sich auf diese Unterhaltung einlassen dürfen.

Zu seiner Erleichterung hört er in diesem Moment von drinnen den trockenen Husten seines Mentors. Doktor Tesimond ist aufgewacht. Mit einer entschuldigenden Geste steht er auf.

Meister Tilman lächelt schief.

«Gott sei mit uns an diesem großen Tag», sagt Doktor Kircher.

Aber Meister Tilman antwortet nicht. Doktor Kircher geht schnell ins Pfarrhaus, um seinem Mentor beim Ankleiden zu

helfen.

Gemessenen Schrittes und bekleidet mit der roten Robe des Richters, bewegt sich Doktor Tesimond zum Podium. Oben steht ein Tisch mit Stößen Papier, beschwert von Steinen aus dem Mühlbach, damit der Wind kein Blatt davonträgt. Die Sonne nähert sich dem Zenit. Flirrend fällt das Licht durch die Krone der Linde. Alle sind da: vorne sämtliche Mitglieder der Familie Steger und der Schmied Stelling mit seiner Frau und der Bauer Brantner mit den Seinen, dahinter Bäcker Holtz mit Frau und beiden Töchtern und Anselm Melker mit seinen Kindern und Frau und Schwägerin und alter Mutter und alter Schwiegermutter und altem Schwiegervater und Tante und daneben Maria Loserin mit ihrer schönen Tochter und dahinter die Henrichs und die Heinerlings mitsamt ihren Knechten und ganz hinten die mausartig runden Gesichter der Tamms. Abseits steht Meister Tilman, gelehnt an den Stamm des Baums. Er trägt eine braune Kutte, sein Gesicht ist blass und aufgequollen. Hinten auf seinem Eselswagen steht der Moritatensänger und kritzelt in ein Büchlein.

Leichtfüßig springt Doktor Tesimond hinauf und stellt sich hinter einen Stuhl. Doktor Kircher fällt es trotz seiner Jugend weniger leicht als ihm, das Podium ist hoch, und die Robe behindert ihn beim Steigen. Als er oben ist, sieht Doktor Tesimond ihn auffordernd an, und Doktor Kircher weiß, dass er jetzt die Stimme erheben soll, aber während er um sich blickt, schwindelt es ihn. Das Gefühl der Unwirklichkeit ist so groß, dass er sich an der Tischkante festhalten muss. Das geschieht ihm nicht zum ersten Mal, es ist eines der Dinge, die er unbedingt geheim halten muss. Er hat gerade erst die niederen Weihen bekommen, er ist noch lange kein vollgültiger Jesuit, und nur Männer von bester Gesundheit an Körper und Geist dürfen Mitglied der Gesellschaft Jesu sein.

Vor allem aber darf niemand wissen, wie sehr ihm immer wieder die Zeit in Unordnung gerät. Manchmal findet er sich an einem fremden Ort wieder, ohne zu wissen, was inzwischen geschehen ist. Neulich hat er für eine gute Stunde vergessen, dass er schon erwachsen ist, hat sich für ein Kind gehalten, das nahe dem Elternhaus im Gras spielt, als wären die fünfzehn Jahre seither und das schwere Studium in Paderborn bloß die Phantasie eines Jungen gewesen, der sich wünscht, endlich erwachsen zu sein. Wie brüchig die Welt ist. Fast jede Nacht sieht er ägyptische Zeichen, und zunehmend wächst die Sorge in ihm, dass er eines Tages aus einem Traum nicht mehr aufwachen, dass er für immer eingesperrt sein könnte in der bunten Hölle eines gottlosen Pharaonenreichs.