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Hastig wischt er sich über die Augen. Peter Steger und Ludwig Stelling, die Beisitzer, sind in schwarzen Roben zu ihnen heraufgestiegen, ihnen nach kommt Ludwig von Esch, der Pfleger und Vorstand des Amtsgerichtsbezirks, der das Urteil sprechen muss, damit es Gültigkeit hat. Sonnenflecken tanzen auf Gras und Brunnen. Trotz der Helligkeit ist es so kalt, dass der Atem zu Dunstwölkchen wird. Lindenkrone, denkt Doktor Kircher. Lindenkrone, so ein Wort kann sich festhaken in einem, aber das darf jetzt nicht geschehen, er darf sich nicht ablenken lassen, er muss seine ganze Kraft auf die Zeremonie richten. Lindenkönig, Lindenkrone, Lindenkron. Nein! Jetzt nicht, jetzt keine Verwirrung, alle warten! Als Schriftführer eröffnet er die Verhandlung, ein anderer kann es nicht tun, es ist seine Aufgabe, er muss ihr gerecht werden. Um sich zu beruhigen, sieht er in die Gesichter der Zuschauer vorne und in der Mitte, aber kaum ist er ruhiger geworden, trifft sein Blick den des Müllersjungen. Ganz hinten steht der, neben seiner Mutter. Die Augen schmal, die Wangen hohl, die Lippen ein wenig gespitzt, als würde er vor sich hin pfeifen.

Versuch, ihn aus deinem Geist zu löschen. Du hast nicht umsonst so viele Exerzitien mitgemacht. Mit dem Verstand verhält es sich wie mit den Augen, sie sehen, was vor ihnen liegt, aber worauf sie sich richten, kannst du bestimmen. Er blinzelt. Nur ein Fleck, denkt er, nur Farben, nur ein Spiel des Lichts. Ich sehe keinen Jungen, ich sehe Licht. Ich sehe kein Gesicht, Farben sehe ich. Nur Farbe, Licht und Schatten.

Und tatsächlich, schon ist der Junge nicht mehr von Bedeutung. Er darf ihn bloß nicht ansehen. Ihre Blicke dürfen sich nicht treffen. Solange das nicht passiert, ist alles in Ordnung.

«Ist der Richter hier?», fragt er mit belegter Stimme.

«Der Richter ist hier», antwortet Doktor Tesimond.

«Der Pfleger hier?»

«Bin hier», sagt Ludwig von Esch ärgerlich. Unter normalen Umständen wäre er es, der den Gerichtstag führt, aber das hier

sind keine normalen Umstände.

«Der erste Beisitzer hier?»

«Hier», sagt Peter Steger.

«Der zweite?»

Schweigen. Peter Steger stößt Ludwig Stelling in die Seite. Der sieht sich verwundert um. Peter Steger stößt noch einmal.

«Ja, ist hier», sagt Ludwig Stelling.

«Das Gericht ist versammelt», sagt Doktor Kircher.

Aus Versehen blickt er Meister Tilman an. Fast lässig lehnt der Henker am Stamm der Linde, reibt seinen Bart und lächelt, aber worüber? Mit klopfendem Herzen blickt er woanders hin, auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, er hätte ein Einverständnis mit dem Scharfrichter. Also sieht er zum Moritatensänger. Vorgestern hat er ihn singen gehört. Die Laute war schlecht gestimmt, die Reime waren klapprig, und die unerhörten Ereignisse, von denen er gesungen hat, waren so unerhört nicht: ein Kindesmord durch die Protestanten in Magdeburg, ein ärmliches Spottlied auf den pfälzischen Kurfürsten, in dem sich Brot auf verbog und wundersam auf Waffengang reimte. Mit Unbehagen denkt er daran, dass in der Ballade, die der Sänger über diesen Prozess singen wird, wohl auch er vorkommen wird.

«Das Gericht ist versammelt», hört er sich erneut sagen. «Zusammengekommen, um Recht zu sprechen und Recht zu erkennen vor der Gemeinde, die Ruhe und Frieden zu halten hat, vom Anfang der Verhandlung bis zum Schluss, im Namen Gottes.» Er räuspert sich, dann ruft er: «Bringt die

Armesünder!»

Eine Weile ist es so still, dass man den Wind hört, die Bienen, das ganze Mäh und Muh und Gekläff und Brummen der Tiere. Dann öffnet sich die Tür des Brantner'schen Kuhstalls. Sie quietscht, weil man sie kürzlich erst mit Eisen verstärkt hat, auch die Fensterläden sind mit Brettern vernagelt. Die Kühe, für die darin jetzt kein Platz mehr ist, sind im Steger-Stall untergekommen; deshalb hat es Streit gegeben, weil Peter Steger Bezahlung dafür wollte und Ludwig Brantner gesagt hat, er könne ja nichts dafür. In einem Dorf ist nie etwas einfach.

Ein Landsknecht tritt gähnend ins Freie, ihm folgen blinzelnd die zwei Angeklagten und hinter ihnen noch zwei Landsknechte. Es sind ältliche Krieger kurz vor der Ausmusterung, einer hinkt, dem anderen fehlt die linke Hand. Etwas Besseres hat man aus Eichstätt nicht geschickt.

Und wenn man sich die Angeklagten so anschaut, kann es einem ja auch scheinen, als wäre mehr nicht notwendig. Mit ihren geschorenen Köpfen, auf denen sich, wie immer, wenn man eines Menschen Haupthaar abschneidet, allerlei Beulen und Buchten zeigen, sehen sie aus wie die harmlosesten und schwächsten Leute überhaupt. Ihre Hände sind mit dicken Verbänden umwickelt, damit man die gequetschten Finger nicht sieht, und um ihre Stirnen ziehen sich dort, wo Meister Tilman das Lederband angelegt hat, blutige Abdrücke. Wie leicht, denkt Doktor Kircher, könnte einen das Erbarmen überkommen, aber man darf sich nicht erlauben, dem Anschein zu glauben, denn sie sind im Bunde mit der größten Macht der gefallenen Welt, und ihr Herr ist jeden Moment bei ihnen. Deshalb ist das so gefährlich: Beim Gerichtstag kann der Teufel immer eingreifen, jederzeit kann er seine Stärke zeigen und sie befreien, nur Mut und Reinheit der Richter können es verhindern. Immer wieder haben seine Oberen ihm im Seminar eingeschärft: Unterschätze die Teufelsbündler nicht! Vergiss nie, dass dein Mitleid ihre Waffe ist und dass ihnen Mittel zur Verfügung stehen, von denen dein Verstand nichts ahnt.

Die Zuschauer machen Platz, eine Gasse entsteht, die beiden Angeklagten werden zum Podium geführt: vorneweg die alte Hanna Krell, dahinter der Müller. Beide gehen sie vorgebeugt, sie wirken geistesabwesend, es wird nicht klar, ob sie wissen, wo sie sind und was geschieht.

Unterschätze sie nicht, sagt sich Doktor Kircher, das ist das Wichtige. Dass du sie nicht unterschätzt.

Das Gericht setzt sich: in der Mitte Doktor Tesimond, rechts von ihm Peter Steger, links Ludwig Stelling. Und links von Stelling, mit einem kleinen Abstand, weil der Gerichtsschreiber zwar zuständig für den reibungslosen Ablauf, aber selbst nicht Teil des Gerichts ist, steht der Stuhl für ihn.

«Hanna», sagt Doktor Tesimond und hebt ein Blatt Papier. «Hier ist dein Geständnis.»

Sie schweigt. Ihre Lippen bewegen sich nicht, ihre Augen scheinen erloschen. Wie eine leere Hülle sieht sie aus, ihr Gesicht eine Maske, die keiner trägt, ihre Arme wie falsch eingehängt in den Gelenken. Besser, man denkt nicht darüber

nach, denkt Doktor Kircher, der im selben Augenblick natürlich doch darüber nachdenken muss, was Meister Tilman mit diesen Armen angestellt hat, damit sie so falsch hängen. Besser man stellt es sich nicht vor. Er reibt sich die Augen und stellt es sich vor.

«Du schweigst», sagt Doktor Tesimond, «also werden wir deine Worte aus dem Verhör vorlesen. Sie stehen auf diesem Blatt. Du hast sie gesprochen, Hanna. Nun sollen alle sie hören. Nun soll alles zutage liegen.» Seine Worte scheinen nachzuhallen, als wären sie in einem steinernen Raum gesprochen und nicht im Freien unter einer Linde, in deren Lindenkrone lind der Wind - nein! Nicht zum ersten Mal muss Doktor Kircher daran denken, wie glücklich er sich schätzen kann und wie sehr er von Gott begünstigt ist, dass Doktor Tesimond ihn zu seinem Famulus erwählt hat. Er selbst hat nichts dazugetan, hat sich nicht angeboten und nicht nach vorne gedrängt, damals, als der legendäre Mann von Wien nach Paderborn gekommen ist, ein Gast der Oberen, ein bewunderter Durchreisender, ein Zeuge des wahren Glaubens, der mit einem Mal beim Exerzitium in der Ordenskirche aufgestanden und auf ihn zugegangen ist. Ich werde dich befragen, mein Junge, antworte schnell. Denk nicht nach, was ich hören will, das kannst du nicht erraten, sag nur, was richtig ist. Wen liebt Gott mehr - die Engel, die ohne Sünde sind, oder den Menschen, der gesündigt hat und bereut? Antworte schneller. Sind die Engel von Gottes Substanz und damit ewig, oder sind sie geschaffen wie wir? Noch schneller. Und die