Sünde, ist sie Gottes Schöpfung, und wenn sie es ist, kann er sie lieben wie alle seine Geschöpfe, und wenn nicht, wie ist es möglich, dass die Strafe des Sünders ohne Ende ist, ohne Ende sein Schmerz und ohne Ende sein Leid im Feuer, sprich schnell!
So ist es eine Stunde gegangen. Er hat sich antworten gehört, auf immer neue Fragen, und wenn er keine Antworten gewusst hat, hat er welche erfunden und manchmal gleich Zitate und Quellen dazu, über hundert Bände hat Thomas von Aquin geschrieben, niemand kennt sie alle, und auf seine Erfindungskraft hat er sich immer schon verlassen können. So hat er gesprochen und gesprochen, als redete ein anderer durch ihn, und hat all seine Kraft zusammengenommen und seinem Gedächtnis nicht erlaubt, ihm Antworten, Sätze oder Namen vorzuenthalten, und auch die Zahlen hat er zusammenrechnen und voneinander abziehen und dividieren können, ohne aufs Klopfen seines Herzens oder den Schwindel in seinem Kopf zu achten, und die ganze Zeit über hat ihm der Mitbruder mit solcher Intensität ins Gesicht gesehen, dass es ihm noch heute manchmal scheinen will, als dauerte die Befragung noch an und würde für immer dauern, als wäre alles seither ein Traum. Doch schließlich ist Doktor Tesimond einen Schritt zurückgetreten und hat mit geschlossenen Augen und wie zu sich selbst gesagt: «Ich brauche dich. Mein Deutsch ist nicht gut, du musst helfen. Ich reise nach Wien zurück, heilige Pflichten rufen, du kommst mit.»
Und so sind sie nun seit einem Jahr unterwegs. Der Weg nach
Wien ist weit, wenn es unterwegs so viel Dringliches gibt; ein Mann wie Doktor Tesimond kann nicht einfach weiterziehen, wenn er Machenschaften vorfindet. In Lippstadt haben sie einen Dämon austreiben müssen, dann war in Passau ein ehrvergessener Priester zu verjagen. Um Pilsen haben sie einen Bogen gemacht, weil die dort besonders wütenden Protestanten durchreisende Jesuiten womöglich hätten verhaften können, und dieses Umwegs wegen hat es sie in ein Dörfchen verschlagen, wo die Verhaftung, Folterung und Verurteilung einer üblen Hexe sie ein halbes Jahr in Anspruch genommen haben. Dann haben sie Kunde von einem drakontologischen Kolloquium in Bayreuth erhalten. Natürlich haben sie dorthin reisen müssen, um Erhard von Felz, den größten Rivalen des Doktors, daran zu hindern, unwidersprochen Unsinn von sich zu geben; die Debatte der beiden hat sieben Wochen, vier Tage und drei Stunden gedauert. Danach hat er inständig gehofft, dass sie die Kaiserstadt nun endlich erreichen würden, aber als sie im Collegium Willibaldinum in Eichstätt übernachtet haben, hat der Fürsterzbischof sie zur Audienz bestellt: «Meine Leute sind verschlafen, Doktor Tesimond, die Pfleger machen nicht genug Anzeigen in den Dörfern, der Hexer werden mehr und mehr, keiner tut etwas, mein eigenes Jesuitenseminar kann ich kaum finanzieren, weil der Domherr dagegen ist. Wollt Ihr mir helfen? Ich ernenne Euch zum Hexen-Commissarius ad hoc, und ich erteile Euch die Erlaubnis, das kapitale Supplicium der Malefikanten an Ort und Stelle vorzunehmen, wenn Ihr mir nur
bitte helft. Ihr erhaltet jede Vollmacht.»
Deswegen hat Doktor Kircher einen ganzen Nachmittag lang gezögert, als ein Gespräch mit einem sonderbaren Jungen in ihm den Verdacht aufkommen ließ, dass ihr Weg sich schon wieder mit dem eines Hexers gekreuzt hat. Ich muss es nicht melden, hat er gedacht, ich kann schweigen, ich kann es vergessen, ich hätte schließlich mit dem Jungen gar nicht sprechen müssen, es war ein Zufall. Aber sogleich ist da wieder die Stimme des Gewissens gewesen: Sprich mit deinem Mentor. Zufälle gibt es nicht, es gibt nur Gottes Willen. Und wie erwartet hat Doktor Tesimond an jenem Nachmittag sofort entschieden, dass der Müller besucht werden müsse, und wie erwartet hat danach alles seinen üblichen Lauf genommen. Jetzt sitzen sie schon seit Wochen in diesem gottverlassenen Dorf, und Wien ist ferner denn je.
Ihm fällt auf, dass alle ihn ansehen, nur die Angeklagten blicken zu Boden. Es ist wieder passiert: Er war abwesend. Er kann nur hoffen, dass es nicht zu lange gedauert hat. Rasch sieht er sich um und findet sich zurecht: Vor ihm liegt das Geständnis der Hanna Krell, er kennt die Schrift, es ist die seine, er hat es selbst geschrieben, er muss es nun verlesen. Mit unsicheren Fingern greift er danach, aber genau in dem Moment, als seine Finger das Papier berühren, kommt Wind auf, Doktor Kircher packt zu, zum Glück schnell genug, das Blatt ist fest in seiner Hand. Nicht auszudenken, ihm wäre es weggeflogen, der Satan ist mächtig, die Luft sein Reich, das käme ihm gerade recht, wenn das Gericht sich zum Gespött
machte.
Während er Hannas Geständnis vorliest, denkt er wider Willen an die Befragung zurück. An den dunklen Raum hinten im Pfarrhaus, einst die Besenkammer, nun das Verhörzimmer, in dem Meister Tilman und Doktor Tesimond Tag um Tag daran gearbeitet haben, die Wahrheit aus der alten Frau hervorzulocken. Doktor Tesimond hat eine freundliche Seele und wäre der strengen Befragung am liebsten ferngeblieben, aber die Halsgerichtsordnung des Kaisers Karl zwingt einen Richter, bei jeder Folter, die er anordnet, zugegen zu sein. Und sie schreibt auch ein Geständnis vor. Kein Prozess darf ohne Geständnis enden, kein Urteil darf verhängt werden, wenn die Beklagten nicht etwas zugegeben haben. Der Prozess findet zwar in der verschlossenen Kammer statt, aber bei dem Gerichtstag, an dem das Geständnis öffentlich bestätigt und das Urteil gesprochen wird, ist alle Welt zugegen.
Während Doktor Kircher liest, kommen aus der Menge Ausrufe des Schreckens. Menschen ziehen die Luft ein, Menschen tuscheln, Menschen schütteln die Köpfe, Menschen fletschen die Zähne vor Grimm und Ekel. Seine Stimme zittert, während er sich von nächtlichen Flügen und entblößten Leibern sprechen hört, von Reisen auf dem Wind, vom großen Sabbat der Nacht, von Blut in den Kesseln und nackten Körpern, sieh, sie wälzen sich, der riesige Ziegenbock mit nie erlahmender Lust, er nimmt dich von vorn und nimmt dich von hinten, zu Liedern, gesungen in der Sprache des Orkus. Doktor Kircher wendet das Blatt und kommt zu den Verwünschungen:
Kälte und Hagel auf die Felder, sodass die Ernte der Frommen verdirbt, und Hunger aufs Haupt der Gottesfürchtigen und Tod und Krankheit den Schwachen und die Pestilenz für die Kinder. Mehrmals will ihm die Stimme versagen, aber er denkt an sein heiliges Amt und ruft sich zur Ordnung, und Gott sei Dank ist er vorbereitet. Nichts von diesen schrecklichen Dingen ist neu für ihn, er kennt jedes Wort, hat es nicht bloß einmal, sondern wieder und wieder geschrieben, draußen vor der Kammer, während drinnen verhört wurde und Meister Tilman alles zutage gefördert hat, was bei einem Hexereiprozess gestanden werden muss: Und bist du nicht auch geflogen, Hanna? Alle Hexen fliegen, willst ausgerechnet du nicht geflogen sein, wirst du es bestreiten? Und der Sabbat? Hast du nicht den Satan geküsst, Hanna? Wenn du sprichst, wird dir vergeben, aber wenn du schweigen willst, dann schau, was Meister Tilman in der Hand hat, er wird es verwenden.
«Das ist geschehen», liest Doktor Kircher die letzten Zeilen vor, «auf solche Art habe ich, Hanna Krell, Tochter von Leopoldina und Franz Krell, dem Herrn widersagt, die Gemeinschaft der Christen verraten, meine Mitbürger mit Schaden belegt und die heilige Kirche und meine Obrigkeit auch. In tiefer Scham gestehe ich und nehme die gerechte Strafe an, so wahr mir Gott helfe.»
Er verstummt. Eine Fliege summt an seinem Ohr vorbei, fliegt einen Bogen, setzt sich auf seine Stirn. Soll er sie verjagen oder tun, als merkte er es nicht? Was ist der Gerichtswürde angemessener, was weniger lächerlich? Er
schielt zu seinem Mentor, aber der gibt ihm keinen Hinweis.
Stattdessen beugt Doktor Tesimond sich vor, sieht Hanna Krell an und fragt: «Ist das dein Geständnis?»
Sie nickt. Ihre Ketten klirren.
«Du musst es sagen, Hanna!»
«Das ist mein Geständnis.»