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Da bemerkt er einen Fremden und verstummt. Wo ist er

hergekommen? Doktor Kircher hat nicht gesehen, wie er sich genähert hat, aber wäre er vorher schon unter den Zuschauern gewesen, mit seinem breitkrempigen Hut und dem Samtkragen und dem silbernen Stock, so hätte er ihm doch auffallen müssen! Aber da steht er, neben dem Wagen des Moritatensängers. Was, wenn nur er ihn sähe? Sein Herz beginnt zu klopfen. Wenn der Mann nur für ihn da wäre und für die anderen unsichtbar, was dann?

Doch jetzt, da der Fremde mit langsamen Schritten nach vorne geht, treten die Leute zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Doktor Kircher seufzt erleichtert. Der Bart des Mannes ist kurz geschnitten, sein Umhang aus Samt, auf dem Filzhut wippt eine Feder. Mit feierlicher Geste nimmt er den Hut ab und verbeugt sich.

«Zum Gruß, Vaclav van Haag.»

Doktor Tesimond steht auf und verbeugt sich ebenfalls. «Eine Ehre», sagte er. «Eine große Freude!»

Auch Doktor Kircher steht auf, verbeugt sich und setzt sich wieder. Es ist also nicht der Teufel, sondern der Autor eines bekannten Werks über die Kristallbildung in Tropfsteinhöhlen - Doktor Kircher hat es irgendwann gelesen und wenig in Erinnerung behalten. Fragend blickt er zur Linde: Das Licht flirrt, als wäre alles ein Trug. Was will denn dieser Fachmann für Kristallbildung hier?

«Ich schreibe eine Abhandlung über die Hexerei», sagt Doktor van Haag, während er sich wieder aufrichtet. «Die Kunde hat sich verbreitet, dass Ihr in diesem Dorf einen Hexer

gestellt habt. Ich bitte um Erlaubnis, ihn verteidigen zu dürfen.»

Ein Murmeln geht durch die Zuschauer. Doktor Tesimond zögert. «Ich bin sicher», sagt er dann, «ein Mann von Eurer Gelehrsamkeit weiß mit seiner Zeit Besseres anzufangen.»

«Schon möglich, aber gleichwohl bin ich hier und bitte Euch um den Gefallen.»

«Die Halsgerichtsordnung schreibt keinen Fürsprecher für den Armesünder vor.»

«Aber sie untersagt Fürsprache auch nicht. Herr Pfleger, wollt Ihr mir erlauben -»

«Sprecht den Richter an, verehrter Kollege, nicht den Pfleger. Der wird das Urteil verkünden, aber richten werde ich.»

Doktor van Haag sieht den Pfleger an. Der ist weiß vor Wut, aber es stimmt, er hat hier nichts zu bestimmen. Van Haag neigt kurz den Kopf und spricht zu Doktor Tesimond: «Es gibt zahlreiche Beispiele. Prozesse mit Fürsprechern werden immer häufiger. Mancher Armesünder spricht nicht so gut für sich selbst, wie er es doch gewiss täte, wenn er nur gut sprechen könnte. Zum Beispiel das verbotene Buch, von dem gerade die Rede war. Hieß es nicht, das sei auf Lateinisch geschrieben?»

«Richtig.»

«Hat der Müller es gelesen?»

«Ja, Herrgott, wie soll er es denn gelesen haben!»

Doktor van Haag lächelt. Er sieht Doktor Tesimond an, dann Doktor Kircher, dann den Müller, dann wieder Doktor

Tesimond.

«Ja und?», fragt Doktor Tesimond.

«Wenn das Buch auf Lateinisch geschrieben ist!»

«Ja?»

«Und wenn der Müller nun nicht Lateinisch spricht.»

«Ja?»

Doktor van Haag breitet die Arme aus und lächelt wieder.

«Kann ich was fragen?», sagt der Müller.

«Ein Buch, das man nicht besitzen darf, verehrter Kollege, ist ein Buch, das man nicht besitzen, nicht eines, das man bloß nicht lesen darf. Mit Vorbedacht spricht das Heilige Offizium vom Haben, nicht vom Kennen. Doktor Kircher?»

Doktor Kircher schluckt, räuspert sich, blinzelt. «Ein Buch ist eine Möglichkeit», sagt er. «Es ist immer zu sprechen bereit. Auch einer, der seine Sprache nicht versteht, kann es an andere weitergeben, die es sehr wohl lesen können, auf dass es sein Schandwerk an ihnen verrichte. Oder er könnte die Sprache erlernen, und gibt es keinen, der sie ihm beibringt, so findet er womöglich einen Weg, sie sich selbst beizubringen. Auch das hat man schon gesehen. Man kann es durchs reine Anschauen der Buchstaben erreichen, durchs Zählen ihrer Häufigkeit, durchs Betrachten ihrer Muster, denn der Menschengeist ist mächtig. Auf diesem Weg hat der heilige Zagraphius in der Wüste das Hebräische erlernt, nur aus der starken Sehnsucht heraus, Gottes Wort im Urlaut zu kennen. Und über Taras von Byzanz wird berichtet, dass er die Hieroglyphen Ägyptens allein durch jahrelanges Anschauen begriffen hat. Leider hat er uns keinen Schlüssel hinterlassen, und so müssen wir die Entzifferung von neuem vornehmen, aber die Aufgabe wird gelöst werden, vielleicht schon bald. Und nicht zu vergessen, es gibt immer die Möglichkeit, dass Satan, dessen Vasallen alle Sprachen verstehen, einem seiner Knechte von einem Tag auf den anderen die Fähigkeit schenkt, das Buch zu lesen. Aus diesen Gründen liegt die Einschätzung des Verständnisses bei Gott und nicht bei seinen Knechten. Bei jenem Gott, der am Tag des Gerichts in die Seelen blicken wird. Aufgabe der menschlichen Richter ist es, die simplen Umstände zu klären. Und der einfachste davon ist dieser: Ist ein Buch verboten, so darf man es nicht haben.»

«Außerdem ist es zu spät für eine Verteidigung», sagt Doktor Tesimond. «Der Prozess ist vorbei. Nur das Urteil fehlt noch. Der Angeklagte hat gestanden.»

«Aber offensichtlich unter Folter?»

«Ja natürlich», ruft Doktor Tesimond. «Warum hätte er sonst gestehen sollen! Ohne Folter würde doch nie jemand was gestehen!»

«Während unter der Folter jeder gesteht.»

«Gott sei Dank, ja!»

«Auch ein Unschuldiger.»

«Aber er ist nicht unschuldig. Wir haben die Aussagen der anderen. Wir haben das Buch!»

«Die Aussagen der anderen, die der Folter verfallen wären, wenn sie nicht ausgesagt hätten?»

Doktor Tesimond schweigt einen Moment. «Verehrter

Kollege», sagt er leise. «Natürlich muss jemand, der sich weigert, gegen einen Hexer auszusagen, selbst untersucht und angeklagt werden. Wo kommt man hin, wenn man das anders hält?»

«Gut, eine andere Frage: Was hat es eigentlich mit der Ohnmacht der Hexer auf sich? Früher hieß es, die Ohnmächtigen würden im Traum mit dem Teufel verkehren. Der Teufel hat ja keine Macht in Gottes Welt, so steht es sogar bei Institoris, darum muss er den Schlaf nützen, um seinen Verbündeten das Wahnbild einzuflößen, er schenke ihnen wilde Lust. Nun aber verurteilt man die Hexer für genau die Taten, die man früher für vom Teufel eingegebene Trugbilder erklärt hat, den Schlaf aber und die Wahnträume legt man ihnen weiterhin zur Last. Ist die böse Tat nun echt oder Einbildung? Sie kann nicht beides sein. Das ist nicht sinnvoll, verehrter Kollege!»

«Das ist überaus sinnvoll, verehrter Kollege!»

«Dann erklärt es mir.»

«Verehrter Kollege, ich werde nicht zulassen, dass der Gerichtstag durch Gerede und Zweifel entwertet wird.»

«Darf ich etwas fragen?», ruft der Müller.

«Ich auch», sagt Peter Steger und streicht seine Robe zurecht. «Das dauert schon lange, können wir eine Pause machen? Die Kühe haben volle Euter, Ihr hört es ja.»

«Nehmt ihn fest», sagt Doktor Tesimond.

Doktor van Haag tritt einen Schritt zurück. Die Wächter starren ihn an.

«Abführen und binden», sagt Doktor Tesimond. «Es stimmt, dass die Halsgerichtsordnung dem Armesünder einen Fürsprecher erlaubt, aber sie sagt nirgendwo, dass es anständig ist, sich zum Fürsprecher eines Teufelsknechtes aufzuschwingen und den Gerichtstag mit dummen Fragen zu stören. Bei aller Wertschätzung für einen gelehrten Kollegen, das kann ich nicht dulden, und wir werden in scharfer Befragung klären, was einen angesehenen Mann dazu bringt, sich so zu verhalten.»

Keiner rührt sich. Doktor van Haag sieht die Wächter an, die Wächter sehen Doktor Tesimond an.

«Vielleicht ist es die Ruhmsucht», sagt Doktor Tesimond. «Vielleicht Schlimmeres. Es wird sich zeigen.»

Ein Lachen geht durch die Menge. Doktor van Haag tritt einen weiteren Schritt zurück und legt die Hand an den Griff seines Degens. Tatsächlich hätte er davonkommen können, denn die Wächter sind weder schnell noch mutig, aber schon steht Meister Tilman neben ihm und schüttelt den Kopf.