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Mehr braucht es nicht. Meister Tilman ist sehr groß und sehr breit, und sein Gesicht sieht auf einmal anders aus als noch gerade eben. Doktor van Haag lässt den Degen los. Einer der Wächter greift ihn am Handgelenk, nimmt den Degen an sich und führt ihn zum Stall mit der eisenverstärkten Tür.

«Ich protestiere!», sagt Doktor van Haag, während er ohne Widerstand mitgeht. «Ein Mann von Stand darf so nicht behandelt werden.»

«Erlaubt mir, verehrter Kollege, Euch zu versprechen, dass

Euer Stand nicht vergessen wird.»

Doktor van Haag dreht sich im Gehen noch einmal um. Er öffnet den Mund, aber ihm scheint plötzlich die Kraft zu fehlen, er ist völlig überrumpelt. Schon öffnet sich knarrend die Tür, und er ist mitsamt dem Wächter im Stall verschwunden. Eine kurze Zeit vergeht, dann kommt der Wächter wieder heraus, schließt die Tür und schiebt die beiden Riegel vor.

Doktor Kirchers Herz klopft. Ihm ist schwindlig vor Stolz. Er hat nicht zum ersten Mal mitangesehen, wie jemand die Entschlossenheit seines Mentors unterschätzt. Man ist eben nicht ohne Grund der einzige Überlebende der Pulververschwörung, man wird nicht einfach so zu einem der berühmtesten Glaubenszeugen der Gesellschaft Jesu. Immer wieder gibt es Leute, die nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Aber unfehlbar finden sie es heraus.

«Das ist der große Gerichtstag», sagt Doktor Tesimond zu Peter Steger. «Das ist nicht die Zeit zum Kuhmelken. Wenn deinem Vieh die Euter weh tun, dann tun sie weh für die Sache Gottes.»

«Ich verstehe», sagt Peter Steger.

«Verstehst du es wirklich?»

«Wirklich. Ja, ja, ich verstehe.»

«Und du, Müller. Wir haben dein Geständnis vorgelesen, wir wollen es nun hören, laut und deutlich: Ist es wahr? Hast du es getan? Bereust du?»

Es wird still. Nur den Wind hört man und das Muhen der Kühe. Eine Wolke ist vor die Sonne gezogen, zu Doktor

Kirchers Erleichterung haben die Lichtspiele in der Baumkrone aufgehört. Dafür aber rascheln und wispern und zischeln die Zweige im Wind. Kalt ist es geworden, wahrscheinlich wird es gleich wieder regnen. Auch die Hinrichtung dieses Hexers wird nichts nützen gegen das schlechte Wetter, es gibt zu viele böse Menschen, alle gemeinsam sind sie schuld an der Kälte und den Missernten und der Knappheit von allem in diesen letzten Jahren vor dem Ende der Welt. Aber man tut, was man kann. Auch wenn man auf verlorenem Posten kämpft. Man hält aus, verteidigt die verbliebenen Stellungen und wartet auf den Tag, da Gott wiederkehrt in Herrlichkeit.

«Müller», wiederholt Doktor Tesimond. «Du musst es sagen, vor allen Menschen hier. Ist es wahr? Hast du es getan?»

«Darf ich was fragen?»

«Nein. Du sollst nur antworten. Ist es wahr? Hast du es getan?»

Der Müller blickt um sich wie einer, der nicht genau weiß, wo er sich befindet. Aber auch das ist wohl eine Finte, Doktor Kircher weiß genau, dass man darauf nicht hereinfallen darf, denn hinter diesen scheinbar verlorenen Leuten verbirgt sich der alte Widersacher, bereit zu töten und zu zerstören, wo immer er kann. Wenn nur die Äste aufhören würden mit ihren Geräuschen. Der Raschelwind ist plötzlich noch schlimmer, als es das flimmernde Licht gewesen ist. Und wenn die Kühe doch ruhig wären!

Meister Tilman tritt neben den Müller und legt ihm die Hand auf die Schulter wie einem alten Freund. Der Müller sieht ihn an, er ist kleiner als der Scharfrichter, sein Blick geht empor wie der eines Kindes. Meister Tilman beugt sich hinab und sagt ihm etwas ins Ohr. Der Müller nickt, als verstünde er. Zwischen den beiden herrscht eine Vertrautheit, die Doktor Kircher verwirrt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er nicht achtgibt und in die falsche Richtung blickt, genau in die Augen des Jungen.

Der ist auf den Wagen des Moritatensängers geklettert. Dort steht er, erhöht über allen, steht auf dem Rand des Wagens, und es ist merkwürdig, dass er nicht fällt. Wie hält er da oben das Gleichgewicht? Doktor Kircher kann nicht anders, er lächelt verkrampft. Der Junge lächelt nicht zurück. Unwillkürlich fragt Doktor Kircher sich, ob das Kind ebenfalls vom Satan berührt ist, doch im Verhör gab es kein Anzeichen dafür, die Frau hat viel geweint, der Junge war in sich gekehrt, aber beide haben alles gesagt, was nötig war. Auf einmal ist Doktor Kircher sich nicht mehr sicher. Ist man zu nachlässig gewesen? Die Finten des Herrn der Luft sind vielfältig. Was, wenn gar nicht der Müller der schlimmste Hexer ist? Doktor Kircher spürt einen Verdacht in sich keimen.

«Hast du es getan?», fragt Doktor Tesimond erneut.

Der Scharfrichter weicht zurück. Alle horchen auf, stellen sich auf die Zehenspitzen, heben die Köpfe. Selbst der Wind lässt für einen Moment nach, als Claus Ulenspiegel Luft holt, um endlich zu antworten.

Er hat nicht gewusst, dass es so gutes Essen gibt. Sein Lebtag ist ihm so etwas nicht begegnet: zuerst eine kräftige Hühnersuppe mit frisch gebackenem Weizenbrot, dann eine Hammelkeule, gewürzt mit Salz und sogar Pfeffer, dann die Lende eines fetten Schweins mit Sauce, schließlich süßer Kirschkuchen, noch warm vom Ofen, dazu ein starker, wie Nebel zu Kopf steigender Rotwein. Sie müssen von irgendwo einen Koch hergebracht haben. Während Claus an seinem kleinen Tisch im Kuhstall isst und spürt, wie sein Magen sich mit warmen, feinen Dingen füllt, denkt er, dass so eine Mahlzeit es im Grunde sogar wert ist, dafür zu sterben.

Er hat gemeint, die Henkersmahlzeit käme nur in Redensarten vor, er hat nicht geahnt, dass tatsächlich ein Koch geholt wird, der einem so gutes Essen zubereitet, wie man es sein Lebtag nicht bekommen hat. Mit zusammengeketteten Armen ist es schwer, das Fleisch zu halten, das Eisen scheuert, die Handgelenke sind wund, aber im Moment ist das egal, so gut schmeckt es. Und überhaupt tun seine Hände schon nicht mehr ganz so weh wie noch vor einer Woche. Meister Tilman ist auch ein Meister des Heilens, Claus hat neidlos einräumen müssen, dass der Scharfrichter Kräuter kennt, von denen er nie gehört hat. Doch das Gefühl ist nicht zurückgekehrt in seine gequetschten Finger, und darum fällt das Fleisch immer wieder auf den Boden. Er schließt die Augen. Er hört die Hühner im

Stall nebenan scharren, er hört das Schnarchen des Mannes mit der teuren Kleidung, der sein Fürsprecher hat sein wollen und jetzt angekettet im Heu liegt. Während er das herrliche Schweinefleisch kaut, versucht er, sich vorzustellen, dass er nie erfahren wird, wie der Prozess dieses Mannes ausgeht.

Er wird dann nämlich tot sein. Er wird auch nicht erfahren, wie das Wetter übermorgen ist. Er wird dann tot sein. Oder ob es morgen Nacht wieder regnet. Aber das ist ja auch egal, wen interessiert schon der Regen.

Nur seltsam ist es doch: Jetzt sitzt du noch hier und kannst alle Zahlen zwischen eins und tausend herbeten, aber übermorgen wirst du entweder ein Luftwesen sein oder aber eine Seele, die in einem Menschen oder Tier wieder zur Welt kommt und sich an den Müller, der du noch bist, kaum erinnert - aber wenn man so ein Wiesel ist oder ein Huhn oder ein Spatz auf dem Zweig und nicht einmal weiß, dass man einmal ein Müller gewesen ist, der sich mit der Bahn des Mondgestirns beschäftigt hat, ja wenn man so von Ast zu Ast hüpft und nur über Körner und natürlich die Bussarde nachdenkt, denen man entkommen muss, was für eine Bedeutung hat es dann eigentlich noch, dass man einst ein Müller war, von dem man nichts mehr weiß?

Ihm fällt ein, dass Meister Tilman ihm gesagt hat, dass er jederzeit mehr bekommen kann. Ruf einfach, sag Bescheid, kannst so viel haben, wie du willst, denn danach kommt nichts mehr.

Also versucht es Claus. Er ruft. Kauend ruft er, denn er hat

noch Fleisch auf dem Teller, und auch Kuchen ist noch da, aber wenn man mehr haben kann, warum soll man dann warten, bis alles weg ist und bis die Leute draußen es sich womöglich anders überlegen? Er ruft noch einmal, und tatsächlich geht die Tür auf.

«Kann ich mehr haben?»

«Von allem?»