beginnt.
«Gnädiger Herr», sagt Claus wieder. «Wenn Ihr Euch einen Haufen Korn vorstellt.»
«Was?»
«Man nimmt immer eines weg und legt es daneben.»
«Was?»
«Immer nur eines. Wann ist das kein Haufen mehr?»
«Nach zwölftausend Körnern.»
Claus reibt sich die Stirn. Seine Ketten klirren. An der Stirn fühlt er den Abdruck des Lederbandes. Höllisch weh getan hat es, er erinnert sich noch an jede Sekunde, die er geheult und gebettelt hat, aber Meister Tilman hat es erst gelockert, als er noch einen weiteren Hexensabbat erfunden und beschrieben hat. «Genau zwölftausend?»
«Natürlich», sagt der Mann. «Glaubst du, ich kann auch so ein Essen bekommen? Es wird doch wohl noch etwas da sein. Das ist alles eine große Ungerechtigkeit, ich sollte nicht hier sein, ich wollte dich nur verteidigen, um darüber in meinem Buch zu schreiben. Die Kristallkunde habe ich abgeschlossen, jetzt wollte ich mich auf die Rechte verlegen. Aber meine Lage hat nichts mit dir zu tun. Vielleicht bist du mit dem Teufel im Bunde, was weiß ich, vielleicht bist du es ja wirklich! Vielleicht bist du es nicht.» Er schweigt eine kurze Zeit, dann ruft er mit herrischer Stimme nach Meister Tilman.
Das geht nicht gut, denkt Claus, der den Scharfrichter inzwischen leidlich kennt. Er seufzt. Jetzt hätte er gern noch etwas Wein, damit die Traurigkeit nicht zurückkommt, aber
ihm wurde klar gesagt, mehr gibt es nicht.
Der Riegel wird zurückgeschoben, Meister Tilman blickt herein.
«Bring mir von diesem Fleisch», sagt der Mann, ohne ihn anzusehen. «Und Wein. Der Krug ist leer.»
«Bist du morgen auch tot?», fragt Meister Tilman.
«Das ist ein Missverständnis», sagt der Mann heiser und tut so, als spräche er zu Claus, denn eher noch darf man mit einem verurteilten Hexer reden als mit dem Scharfrichter. «Und eine hündische Gemeinheit ist es auch, für die einige noch büßen werden.»
«Wer morgen noch lebt, kriegt auch keine Henkersmahlzeit», sagt Meister Tilman. Er legt Claus eine Hand auf die Schulter. «Hör mal», sagt er leise. «Wenn du morgen unter dem Galgen stehst - vergiss nicht, dass du allen verzeihen musst.»
Claus nickt.
«Den Richtern», sagt Meister Tilman. «Und mir musst du auch verzeihen.»
Claus schließt die Augen. Noch spürt er den Wein - ein warmes, weiches Schwindelgefühl.
«Laut und deutlich», sagt Meister Tilman.
Claus seufzt.
«Das gehört sich», sagt Meister Tilman, «das macht man so, der Armesünder verzeiht seinem Henker laut und deutlich, sodass alle es hören können. Das weißt du?»
Claus muss an seine Frau denken. Vorhin ist Agneta da gewesen und hat durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern
mit ihm geredet. Wie leid es ihr tue, hat sie geflüstert, und dass sie keine andere Wahl gehabt habe, als zu sagen, was sie von ihr verlangt hätten, und ob er ihr verzeihen könne.
Natürlich, hat er geantwortet, er verzeihe alles. Aber dass ihm nicht so recht klar gewesen ist, wovon sie überhaupt geredet hat, das hat er für sich behalten. Da ist nichts zu machen, seit den Befragungen ist sein Verstand nicht mehr so zuverlässig wie einst.
Dann hat sie wieder geweint und von ihrem schweren Leben gesprochen und auch von dem Jungen, der ihr Sorgen macht, und dass sie nicht weiß, wohin mit ihm.
Claus hat sich gefreut, von dem Jungen zu hören, denn an ihn hat er lange nicht gedacht, und im Grunde hat er ihn doch sehr gern. Aber es ist etwas Sonderbares an ihm, man kann es kaum erklären, der Junge scheint nicht aus dem gleichen Stoff gemacht wie andere Menschen.
«Du hast es leicht», hat sie gesagt. «Du musst dir über nichts mehr den Kopf zerbrechen. Aber ich kann hier im Dorf nicht bleiben. Das erlauben sie nicht. Und ich war doch nie woanders, was soll ich tun?»
«Ja, sicher», hat er geantwortet und dabei noch über den Jungen nachgedacht. «Das ist schon wahr.»
«Zur Schwägerin könnt ich vielleicht, nach Pfünz. Das hat der Onkel gesagt, bevor er gestorben ist, dass er gehört hat, dass die Schwägerin jetzt in Pfünz ist. Vielleicht stimmt es ja.»
«Du hast eine Schwägerin?»
«Die Frau vom Neffen des Onkels. Die Kusine vom Franz
Melker. Du hast den Onkel nicht gekannt, er ist gestorben, als ich ein Kind war. Wo soll ich sonst hin?»
«Ich weiß nicht.»
«Aber was ist mit dem Jungen? Mir hilft sie vielleicht, wenn sie sich erinnert, wer weiß. Wenn sie noch lebt. Aber zwei hungrige Leute auf einmal? Das sind zu viele.»
«Ja, das sind zu viele.»
«Vielleicht kann ich den Jungen als Taglöhner unterbringen, er ist klein und arbeitet nicht gut, aber es könnte gehen. Was soll ich sonst tun? Hierbleiben darf ich nicht.»
«Nein, darfst du nicht.»
«Du blödes Vieh, du hast es jetzt leicht. Aber sag mir doch, soll ich die Schwägerin suchen gehen? Vielleicht war es gar nicht Pfünz. Du weißt doch immer alles, sag mir, was tu ich?»
In diesem Moment ist zum Glück die Henkersmahlzeit gekommen, und Agneta hat sich zurückgezogen, damit der Scharfrichter sie nicht sieht, denn keiner darf mit einem Armesünder reden. Und dann sind der Wein und das Essen so gut gewesen, dass ihm das Schluchzen ganz vergangen ist.
«Müller!», ruft Meister Tilman. «Hörst du mir zu?»
«Jaja.»
Meister Tilmans Hand liegt schwer auf seiner Schulter. «Du musst es laut sagen morgen! Dass du mir verzeihst! Hörst du? Vor allen Menschen, hast du gehört? Das wird so gemacht!»
Claus will antworten, aber sein Kopf mag nicht bei der Sache bleiben, zumal er jetzt schon wieder an den Jungen denken muss. Neulich hat er ihn jonglieren sehen. Zwischen zwei
Befragungen ist das gewesen, in der leeren Zeit, in der die Welt aus nichts als pochendem Schmerz besteht - da hat er durch die Ritzen geblickt und seinen Sohn gesehen, wie er vorbeigegangen ist und Steine über sich hat wirbeln lassen, als hätten sie kein Gewicht, als geschähe es von selbst. Claus hat seinen Namen gerufen, um ihn zu warnen. Wer so etwas kann, muss aufpassen, auch dafür kann man der Hexerei bezichtigt werden, aber der Junge hat ihn nicht gehört - vielleicht auch deshalb, weil Claus' Stimme zu schwach war. Das ist jetzt immer so, dagegen ist er machtlos, das liegt an der Befragung.
«Hör mal», sagt Meister Tilman. «Du wirst mich nicht ins Tal Josaphat bestellen!»
«Der Fluch eines Sterbenden ist das Mächtigste», sagt der Mann im Stroh. «Der klebt an der Seele, den wirst du nicht mehr los.»
«Das wirst du nicht tun, Müller, den Scharfrichter verfluchen, das tust du mir nicht an, oder?»
«Nein», sagt Claus. «Tu ich nicht.»
«Du denkst vielleicht, dass es egal ist. Du denkst, du hängst ohnehin, aber ich bin es, der mit dir auf der Leiter steht, und ich bin der, der den Knoten anlegt, und ich muss dich an den Beinen ziehen, damit der Nacken bricht, sonst dauert es!»
«Das stimmt», sagt der Mann im Stroh.
«Du bestellt mich nicht ins Tal Josaphat? Du verfluchst mich nicht, du verzeihst dem Henker, wie es sich gehört?»
«Ja, mach ich», sagt Claus.
Meister Tilman nimmt die Hand von seiner Schulter und gibt
ihm einen freundschaftlichen Klaps. «Ob du den Richtern verzeihst, ist mir egal. Das ist nicht meine Sorge. Das kannst du halten, wie du magst.»
Plötzlich muss Claus lächeln. Das liegt sicher noch am Wein, aber es liegt auch daran, dass ihm klargeworden ist, dass er nun endlich den großen Schlüssel Salomonis ausprobieren kann. Dafür hat es nie eine Gelegenheit gegeben, er hat die vielen langen Sätze vom alten Hüttner gelernt, damals ist ihm das leichtgefallen, wahrscheinlich könnte er sie noch in seinem Gedächtnis finden. Die werden schauen, wenn er morgen auf der Leiter steht und auf einmal die Ketten reißen, als wären sie aus Papier. Glotzen werden sie, wenn er die Arme ausbreitet und aufsteigt und in der Luft schwebt über ihren dummen Gesichtern - über dem blöden Peter Steger und seiner noch blöderen Frau und seinen Verwandten und Kindern und Großeltern, einer dümmer als der andere, über den Melkers und den Homrichs und den Holtzs und den Tamms und all den anderen. Wie sie glotzen werden, wenn er nicht fällt, sondern steigt und weiter steigt, wie sie die Mäuler aufsperren werden. Für eine kurze Zeit noch sieht er sie kleiner werden, dann sind sie Punkte, und dann ist das Dorf selbst ein Fleck inmitten des dunkelgrünen Waldes, und wenn er den Kopf hebt, wird er den weißen Samt der Wolken sehen und deren Bewohner, einige mit Flügeln, einige aus weißem Feuer, einige mit zwei oder drei Köpfen, und dort ist er, der Fürst der Luft, der König der Geister und Flammen. Hab Erbarmen, mein großer Teufel, nimm mich auf in dein Reich, mach mich frei, und schon hört