Claus ihn antworten: Sieh, mein Land. Sieh, wie groß es ist, und sieh, wie weit drunten, flieg mit mir.
Claus lacht auf. Für einen Moment sieht er Mäuse, die um seine Füße wimmeln, einige haben die Schwänze von Schlangen, andere die Fühler von Raupen, und ihm ist, als fühlte er ihre Bisse, aber der Schmerz ist prickelnd und beinahe angenehm, und dann sieht er sich wieder fliegen, so leicht bin ich, wenn mein Herr es erlaubt. Nur an die Worte musst du dich erinnern, keines darf falsch sein, keines fehlen, sonst sperrt Salomons Schlüssel nicht auf, sonst ist es vergeblich. Aber wenn du die Worte findest, wird alles von dir abfallen, die schweren Ketten, die Not, das Müllersdasein aus Kälte und Hunger.
«Das liegt am Wein», sagt Meister Tilman.
«Ich bin nicht lang gefangen», sagt der Mann, ohne ihn anzusehen. «Das tut dem Tesimond noch leid.»
«Er hat gesagt, er wird mir verzeihen», sagt Meister Tilman. «Er hat gesagt, er verflucht mich nicht.»
«Sprich nicht mit mir!»
«Sag, ob du es gehört hast», sagt Meister Tilman. «Oder ich tu dir weh. Hat er's gesagt?»
Beide blicken zum Müller. Der hat die Augen geschlossen und den Kopf an die Wand gelehnt, und er hört nicht auf zu kichern.
«Ja», sagt der Mann. «Das hat er gesagt.»
Nele hat gleich gemerkt, dass er nicht gut ist. Aber erst, als sie Gottfried vor der Menschenmenge auf dem Marktflecken das Lied über den teuflischen Müller vortragen hört, wird ihr klar, dass sie an den schlechtesten Bänkelsänger von allen geraten sind.
Viel zu hoch singt er, und manchmal räuspert er sich mitten in der Zeile. Beim Sprechen klingt seine Stimme ja noch ganz gut, doch wenn er singt, wird sie brüchig und kiekst. Die Stimme allein wäre nicht schlimm, wenn er nur die Töne treffen würde. Und das falsche Singen wäre ebenfalls nicht so schlimm, wenn er wenigstens die Laute spielen könnte - Gottfried vergreift sich immer wieder, und manchmal vergisst er, wie das Lied weitergeht. Aber auch das wäre nicht so unerträglich, wären nur seine Verse besser. Sie erzählen vom gemeinen Müller und dem Dorf, das er unter der Knute gehalten hat, von seinen Hexereien und Schlichen, doch obwohl sie so reich an gräulichen Geschichten und blutigen Details sind, wie die Leute das erwarten, sind sie wirr und kaum zu verstehen, und die Reime sind derart unbeholfen, dass es sogar ein Kind stören muss.
Die Leute hören trotzdem zu. Es kommen nicht oft Bänkelsänger, und Moritaten über Hexenprozesse will man sogar dann hören, wenn sie miserabel sind. Aber nach vier Strophen kann Nele sehen, dass die Mienen sich verändern,
und als er bei der zwölften und letzten angelangt ist, sind schon viele weggegangen. Jetzt braucht es dringend etwas, das besser ankommt. Hoffentlich weiß er das, denkt Nele, hoffentlich hat er ein Gespür dafür!
Gottfried beginnt das Lied von vorne.
Er bemerkt die Unruhe in den Gesichtern, und in seiner Verzweiflung singt er lauter, wodurch seine Stimme noch schriller wird. Nele blickt hinüber zu Tyll. Der rollt mit den Augen, dann breitet er in gottergebener Geste die Arme aus. Leichtfüßig springt er neben den Sänger und beginnt, auf dem Wagen zu tanzen.
Sofort wird alles besser. Gottfried singt so schlecht wie zuvor, aber plötzlich ist das nicht mehr wichtig. Tyll tanzt, als hätte er es gelernt, er tanzt, als hätte sein Körper keine Schwere und als gäbe es kein größeres Vergnügen. Er springt und dreht sich und springt wieder, als hätte er nicht gerade erst alles verloren, und es ist so ansteckend, dass ein paar und dann noch ein paar und dann immer mehr von den Zuhörern ebenfalls zu tanzen beginnen. Schon fliegen Münzen herüber. Nele sammelt sie auf.
Auch Gottfried sieht das, und vor Erleichterung gelingt es ihm jetzt besser, den Rhythmus zu halten; so hingebungsvoll tanzt Tyll und mit solch leichter Bestimmtheit, dass Nele beim Zuschauen fast vergessen könnte, dass es in dem Lied um seinen Vater geht, Müller reimt sich auf Schüler, Teufel auf Läufel, Feuer auf Feier und Nacht auf Nacht, denn dieses Wort kommt immer wieder: Dunkelnacht, schwarze Nacht,
Hexennacht. Von der fünften Strophe an geht es um die Gerichtsverhandlung - die strengen und tugendhaften Richter, die Gnade Gottes, die Strafe, die jeden Bösewicht am Ende ereilt, während der Satan heult, sodass sein Fleisch verfäult, und den Galgen, an dem der böse Müller am Ende sein schlechtes Leben aushauchen muss, während der Teufel verfauchen muss. Tyll hört nicht zu tanzen auf bei alldem, denn sie brauchen die Münzen, sie müssen essen.
Es kommt ihr noch immer wie ein Traum vor. Dass dieses Dorf nicht ihr Dorf ist, dass hier Menschen leben, deren Gesichter sie nicht kennt, und Häuser stehen, in denen sie nie gewesen ist. Es ist ihr nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie ihr Zuhause je verlassen würde, es war nicht vorgesehen, und halb rechnet sie damit, dass sie gleich daheim aufwachen wird, neben dem großen Ofen, aus dem in Schwaden die Brotwärme wabert. Mädchen gehen nicht anderswohin. Sie bleiben, wo sie geboren sind, so war es immer: Du bist klein, du hilfst im Haus, du wirst größer, du hilfst den Mägden, du wirst erwachsen und heiratest einen Steger-Sohn, wenn du hübsch bist, oder aber einen Verwandten des Schmieds oder, wenn es schlecht läuft, einen Heinerling. Dann bekommst du ein Kind und noch ein Kind und weitere Kinder, von denen die meisten sterben, und weiterhin hilfst du den Mägden und sitzt in der Kirche etwas weiter vorne, neben deinem Mann und hinter der Schwiegermutter, und dann, wenn du vierzig bist und deine Knochen schmerzen und deine Zähne dahin sind, sitzt du auf dem Platz der
Schwiegermutter.
Weil sie das nicht wollte, ist sie mit Tyll gegangen.
Wie viele Tage ist das jetzt her? Sie könnte es nicht sagen, im Wald ist die Zeit in Unordnung. Aber sie erinnert sich gut daran, wie Tyll vor ihr gestanden hat, am Abend nach dem Gerichtstag, dünn und etwas schief, im wogenden Korn der Steger-Wiese.
«Was geschieht jetzt mit euch?», hat sie gefragt.
«Meine Mutter sagt, ich muss Taglöhner werden. Sie sagt, es wird schwer, weil ich zu klein und schwach bin, um gut zu arbeiten.»
«Und das machst du?»
«Nein, ich gehe.»
«Wohin?»
«Weit weg.»
«Wann?»
«Jetzt. Der eine von den Jesuiten, der jüngere, hat mich so angesehen.»
«Aber du kannst nicht einfach weggehen!»
«Doch.»
«Und wenn sie dich einfangen? Du bist allein, und sie sind viele.»
«Aber ich hab zwei Füße, und ein Richter mit Robe oder ein Wächter mit Hellebarden, die haben auch nur zwei. Jeder von ihnen hat so viele Füße wie ich. Keiner hat mehr. Die können zusammen nicht schneller laufen als wir.»
Da hat sie plötzlich eine wundersame Aufregung gefühlt, und
ihre Kehle war wie zusammengeschnürt, und ihr Herz hat geklopft. «Warum sagst du wir?»
«Weil du mitkommst.»
«Mit dir?»