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«Deshalb hab ich doch auf dich gewartet.»

Sie weiß, dass sie nicht nachdenken darf, sonst verliert sie den Mut, sonst bleibt sie hier, wie es vorgesehen ist; aber er hat recht, man kann tatsächlich gehen. Dort, wo alle denken, dass man bleiben muss, hält einen in Wahrheit nichts.

«Jetzt geh nach Hause», sagt er, «und hol so viel Brot, wie du tragen kannst.»

«Nein!»

«Du gehst nicht mit?»

«Doch, ich gehe mit, aber ich gehe vorher nicht mehr heim.»

«Aber das Brot!»

«Wenn ich meinen Vater sehe und Mama und den Ofen und die Schwester, dann gehe ich nicht mehr fort, dann bleibe ich!»

«Wir brauchen Brot.»

Sie schüttelt den Kopf. Und wirklich, denkt sie jetzt, während sie auf dem Marktplatz eines fremden Dorfes Münzen einsammelt - wäre sie noch einmal in die Bäckerei gegangen, so wäre sie geblieben und hätte bald den Steger-Sohn geheiratet, den älteren, dem vorne zwei Zähne fehlen. Es gibt nur wenige Augenblicke, in denen zweierlei möglich ist, ein Weg so gut wie ein anderer. Nur wenige Augenblicke, in denen man entscheiden kann.

«Ohne Brot können wir nicht gehen», sagt er. «Wir sollten

auch warten, bis es Morgen ist. Der Wald in der Nacht, du kennst ihn nicht. Du hast das nie erlebt.»

«Hast du Angst vor der Kalten?»

Da weiß sie, dass sie gewonnen hat.

«Ich hab keine Angst», sagt er.

«Na dann los!»

Ihr Leben lang wird sie nicht diese Nacht vergessen, ihr Leben lang nicht die kichernden Irrlichter, die Stimmen aus der Schwärze, ihr Leben lang nicht die Tierlaute und auch nicht das funkelnde Gesicht, das für einen Moment vor ihr aufgetaucht ist, um sofort wieder zu verschwinden, noch bevor sie sich sicher war, dass sie es überhaupt gesehen hat. Ihr Leben lang wird sie an die Angst denken, das bis in den Hals hinauf pochende Herz, das Klopfen des Blutes in den Ohren und das wimmernde Gemurmel des Jungen vor ihr, der entweder mit sich selbst oder mit den Wesen des Waldes gesprochen hat. Als der Morgen kommt, finden sie sich zitternd vor Kälte am Rand einer lehmigen Lichtung wieder. Der Frühtau tropft von den Bäumen, sie haben Hunger.

«Du hättest doch besser Brot holen sollen.»

«Ich kann dich aufs Gesicht hauen.»

Als sie weitergehen, in der klammen, feuchten Morgenluft, weint Tyll ein wenig, und auch Nele ist zum Schluchzen zumute. Ihre Beine sind schwer, der Hunger ist kaum auszuhalten, und Tyll hat recht gehabt, ohne Brot muss man sterben. Zwar gibt es Beeren und Wurzeln, und auch das Gras sollte essbar sein, aber das reicht nicht, man wird davon nicht

satt. Im Sommer könnte es vielleicht genügen, aber in dieser Kälte nicht.

Und da hören sie hinter sich das Rumpeln und Quietschen eines Fuhrwerks. Sie verstecken sich im Gebüsch, bis sie sehen, dass es nur der Wagen des Bänkelsängers ist. Tyll springt hervor und stellt sich mitten auf den Weg.

«Ach», sagt der Sänger. «Der Müllerssohn!»

«Nimmst uns mit?»

«Warum?»

«Einmal, weil wir sonst verrecken. Aber auch, weil wir dir helfen. Willst du keine Gesellschaft haben?»

«Wahrscheinlich suchen sie dich schon», sagt der Sänger.

«Ein Grund mehr. Oder willst du vielleicht, dass sie mich kriegen?»

«Steigt auf.»

Gottfried erklärt ihnen das Wichtigste: Wer mit einem Bänkelsänger reist, gehört zum fahrenden Volk, den schützt keine Gilde, und den beschirmt keine Obrigkeit. Bist du in einer Stadt und es brennt, musst du dich davonmachen, denn man wird denken, du hättest Feuer gelegt. Bist du in einem Dorf und etwas wird gestohlen, mach dich ebenfalls davon. Überfallen dich die Räuber, so gib ihnen alles. Meistens nehmen sie aber nichts, sondern verlangen ein Lied, dann sing für sie, so gut du kannst, denn Räuber tanzen oft besser als die stumpfen Leute in den Dörfern. Halte immer die Ohren offen, damit du weißt, wo gerade Markttag ist, denn ist kein Markttag, lassen sie dich nicht in die Dörfer. Auf einem Markt

kommen die Leute zusammen, da wollen sie tanzen, da wollen sie Lieder hören, da sitzt ihr Geld locker.

«Ist mein Vater tot?»

«Ja, der ist tot.»

«Hast du es gesehen?»

«Natürlich hab ich es gesehen, deshalb bin ich ja dort gewesen. Erst hat er den Richtern vergeben, wie es sich gehört, dann dem Henker, dann ist er auf die Leiter gestiegen, dann hat er die Schlinge um den Hals bekommen, und dann hat er zu murmeln angefangen, aber ich stand zu weit hinten, ich hab ihn nicht verstanden.»

«Und dann?»

«Ist es gegangen, wie es eben geht.»

«Also ist er tot?»

«Junge, wenn einer am Galgen hängt, was soll denn sonst sein? Natürlich ist er tot! Was glaubst denn du?»

«Ging es schnell?»

Gottfried schweigt eine Weile, bevor er antwortet: «Ja, sehr schnell.»

Eine Zeitlang fahren sie, ohne zu reden. Die Bäume stehen nicht mehr so dicht beieinander, Lichtstrahlen fallen durchs Blätterdach. Aus dem Gras der Lichtungen hebt sich feiner Dunst, die Luft füllt sich mit Insekten und Vögeln.

«Wie wird man Sänger?», fragt Nele schließlich.

«Das lernt man. Ich hatte einen Meister. Er hat mir alles beigebracht. Ihr habt schon von ihm gehört, es ist der Gerhard Vogtland.»

«Nein.»

«Der aus Trier!»

Der Junge zuckt die Schultern.

«Die Großlitanei zum Feldzug des Herzogs Ernst gegen den tückischen Sultan.»

«Was?»

«Das ist sein berühmtestes Lied. Die Großlitanei zum Feldzug des Herzogs Ernst gegen den tückischen Sultan. Kennt ihr wirklich nicht? Soll ich singen?»

Nele nickt, und so machen sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit Gottfrieds kümmerlicher Begabung. Die Großlitanei zum Feldzug des Herzogs Ernst gegen den tückischen Sultan hat dreiunddreißig Strophen, und obwohl Gottfried sonst wenig kann, hat er doch ein hervorragendes Gedächtnis und keine einzige vergessen.

So fahren sie eine lange Zeit. Der Sänger singt, der Esel grunzt von Zeit zu Zeit, und die Räder rumpeln und quietschen, als führten sie ein Gespräch miteinander. Nele sieht aus dem Augenwinkel, dass dem Jungen die Tränen übers Gesicht laufen. Er hat den Kopf abgewendet, damit keiner es bemerkt.

Als Gottfried mit seinem Lied fertig ist, beginnt er von vorne. Danach singt er ihnen eine Moritat über den schönen Kurfürsten Friedrich und die böhmischen Stände, danach singt er über den bösen Drachen Kufer und den Ritter Robert, danach über den gemeinen König in Frankreich und den großen König in Spanien, dessen Feind. Dann erzählt er aus seinem Leben. Sein Vater ist Scharfrichter gewesen, also hätte

er auch Scharfrichter werden müssen. Aber er ist davongelaufen.

«So wie wir», sagt Nele.

«Viele tun das, mehr, als ihr denkt! Zum rechtschaffenen Leben gehört es, am Ort zu bleiben, aber das Land ist voll von Menschen, die es nicht am Ort gehalten hat. Sie haben keinen Schutz, aber sie sind frei. Sie müssen keine Leute aufknüpfen. Sie müssen niemanden töten.»

«Müssen nicht den Steger-Sohn heiraten», sagt Nele.

«Müssen nicht Taglöhner sein», sagt der Junge.

Sie erfahren, wie es Gottfried einst mit seinem Meister ergangen ist. Viel geschlagen habe ihn der Vogtland und oft getreten und einmal sogar ins Ohr gebissen, weil er die Töne nicht getroffen habe und mit seinen dicken Fingern auch die Laute kaum habe spielen können. Armer Dummkopf, habe der Vogtland gerufen, wolltest kein Henker sein, jetzt quälst du die Menschen zehnfach mit deiner Musik! Aber davongejagt habe der Vogtland ihn dann doch nicht, und so habe er es besser und besser gelernt, sagt Gottfried stolz, bis er schließlich selbst ein Meister geworden sei. Allerdings habe er entdeckt, dass die Leute von Hinrichtungen hören wollten, überall, jederzeit. Hinrichtungen seien niemandem gleichgültig.

«Bei Hinrichtungen kenn ich mich aus. Wie man das Schwert hält, wie man den Knoten setzt, wie man einen Scheiterhaufen schichtet und wo man am besten die heiße Zange ansetzt, darüber weiß ich alles. Andere Sänger haben vielleicht rundere Reime, aber ich kann sehen, welcher Henker sein Geschäft