Выбрать главу

versteht und welcher nicht, und meine Moritaten sind die akkuratesten.»

Als es dunkel wird, entzünden sie ein Feuer. Gottfried teilt seinen Proviant mit ihnen: trockene Brotfladen, von denen Nele sofort erkennt, dass ihr Vater sie gemacht hat. Kurz kommen auch ihr die Tränen, denn ihr ist beim Anblick dieser Brote mit dem in die Mitte eingedrückten Kreuz und den zerkrümelnden Rändern klargeworden, dass sie in der gleichen Lage ist wie der Junge. Er wird seinen Vater nie wiedersehen, weil er tot ist, sie ihren aber auch nicht, weil sie nicht zurückkann, beide sind sie jetzt Waisenkinder. Aber der Moment vergeht, sie blickt ins Feuer und fühlt sich auf einmal so frei, als könnte sie fliegen.

Die zweite Nacht im Wald ist nicht mehr so schlimm wie die erste. Sie sind nun an die Geräusche gewöhnt, außerdem geht Wärme von der Glutasche aus, und der Sänger hat ihnen eine dicke Decke gegeben. Beim Einschlafen merkt sie, dass Tyll neben ihr noch munter ist. So wach ist er, so aufmerksam, so hingebungsvoll denkt er nach, dass sie es spüren kann. Sie wagt nicht, den Kopf in seine Richtung zu drehen.

«Einer, der Feuer trägt», sagt er leise.

Sie weiß nicht, ob er zu ihr gesprochen hat. «Bist du krank?»

Er scheint Fieber zu haben. Sie schmiegt sich an ihn, Wärme strahlt in Wellen von ihm ab, und das ist angenehm und lässt sie nicht so frieren. So schläft sie nach kurzem ein und träumt von einem Schlachtfeld und Tausenden Menschen, die über eine hügelige Landschaft ziehen, und da beginnen die Kanonen zu hämmern. Sie wacht auf, es ist Morgen, es regnet wieder.

Der Sänger sitzt gekrümmt unter seiner Decke, einen kleinen Schreibkalender in der einen und den Griffel in der anderen Hand. Er schreibt mit winzigen Zeichen, unlesbar fast, denn er hat nur diesen Kalender, und Papier ist teuer.

«Dichten ist das Schwerste», sagt er. «Wisst ihr ein Wort, das sich auf Schurke reimt?»

Aber schließlich ist er doch fertig geworden mit dem Lied vom bösen Müller, und nun sind sie auf dem Marktflecken, während Gottfried singt und Tyll dazu tanzt, so leicht und elegant, dass es selbst Nele überrascht.

Es stehen noch andere Wagen hier. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ist der Wagen eines Tuchhändlers, daneben gibt es zwei Scherenschleifer, daneben einen Obsthändler, einen Kesselflicker, noch einen Scherenschleifer, einen Heiler, der im Besitz von Theriak ist, das jede Krankheit heilen kann, einen Obsthändler, einen Gewürzhändler, einen zweiten Heiler, der leider kein Theriak und daher das Nachsehen hat, einen vierten Scherenschleifer und einen Bartscherer. All diese Leute gehören zum fahrenden Handwerk. Wer sie beraubt oder umbringt, wird nicht verfolgt. Das ist der Preis der Freiheit.

Am Rand des Platzes gibt es noch ein paar zwielichtige Gestalten. Das sind die unehrlichen Leute, Musikanten etwa mit Pfeife, Dudelsack und Geige. Sie stehen weit weg, doch Nele will es scheinen, als grinsten sie herüber und flüsterten einander Scherze über Gottfried zu. Neben ihnen sitzt ein Erzähler. Man erkennt ihn am gelben Hut und am blauen

Wams und daran, dass er ein Schild um den Hals hat, auf dem in großen Buchstaben etwas steht, was wohl Erzähler heißt, denn nur Erzähler haben Schilder - eigentlich unsinnig, da sein Publikum aus Leuten besteht, die nicht lesen können. Musiker erkennt man an ihren Instrumenten und Händler an ihrer Ware, aber um einen Erzähler zu erkennen, braucht es nun mal ein Schild. Und dann ist da noch ein kleingewachsener Mann in der weithin erkennbaren Kleidung der Gaukler: buntes Wams, geplusterte Hosen, Kragen aus Fell. Mit dünnem Lächeln sieht auch er herüber, etwas Schlimmeres als Spott ist darin, und als er bemerkt, dass Nele ihn anblickt, zieht er eine Augenbraue hoch, zeigt seine Zunge im Mundwinkel und zwinkert.

Gottfried hat zum zweiten Mal die zwölfte Strophe erreicht, zum zweiten Mal beendet er seine Ballade, überlegt einen Moment und beginnt wieder von vorn. Tyll macht Nele ein Zeichen. Sie steht auf. Natürlich hat sie schon getanzt - auf den Dorffesten, wenn Musikanten gekommen und die jungen Leute übers Feuer gesprungen sind, und oft hat sie auch mit den Mägden getanzt, einfach so, ohne Musik, in den Arbeitspausen. Aber noch nie hat sie es vor Zuschauern getan.

Doch während sie sich erst in die eine und dann in die andere Richtung dreht, stellt sie fest, dass es keinen Unterschied macht. Sie muss sich nur an Tyll halten. Jedes Mal, wenn der Junge in die Hände klatscht, klatscht auch sie, wenn er den rechten Fuß hebt, hebt sie ihren rechten, und den linken, wenn er den linken hebt, zunächst mit einer kleinen Verzögerung, doch dann schon zugleich, als wüsste sie vorher, was er tun

wird, als wären sie nicht zwei Personen, sondern beim Tanzen zu einer geworden - und jetzt auf einmal kippt er nach vorne und tanzt auf seinen Händen, und sie dreht sich um ihn, wieder und wieder und wieder, sodass der Dorfplatz zu einem Geschmier von Farben wird. Schwindelgefühl steigt in ihr auf, aber sie kämpft dagegen an und hält den Blick ins Leere gerichtet, schon wird es besser, und sie kann das Gleichgewicht halten, ohne zu schwanken, während sie sich dreht.

Für einen Augenblick ist sie verwirrt, als die Musik anschwillt und die Töne reicher werden, aber dann begreift sie, dass die Musiker eingefallen sind. Ihre Instrumente spielend, kommen sie heran, und Gottfried, der ihren Rhythmus nicht halten kann, lässt ratlos die Laute sinken, sodass nun endlich alles richtig klingt. Die Menschen applaudieren, Münzen springen über das Holz des Wagens. Tyll steht wieder auf den Füßen, Nele hört auf, sich zu drehen, zwingt ihr Schwindelgefühl nieder und sieht zu, wie er ein Seil - wo hat er es so schnell hergenommen? - am Wagen festknotet und dann von sich wirft, sodass es sich entrollt. Irgendwer fängt es, sie kann es nicht erkennen, weil alles noch schwankt, irgendwer hat es festgeknotet, schon steht Tyll auf dem Seil und springt vor und zurück und verbeugt sich, und mehr Münzen fliegen, und Gottfried kommt kaum nach mit dem Aufheben. Am Ende springt der Junge herunter und nimmt ihre Hand, die Musiker spielen einen Tusch, sie beide verbeugen sich, und die Leute klatschen und grölen, und der Obsthändler wirft ihnen Äpfel zu - sie fängt einen und beißt hinein, seit einer Ewigkeit hat sie keinen Apfel gegessen. Tyll neben ihr fängt auch einen und noch einen und noch einen und dann noch einen und jongliert mit ihnen. Wieder geht ein Jauchzen durch die Menge.

Als es Abend wird, sitzen sie auf dem Boden und hören dem Erzähler zu. Er spricht vom armen König Friedrich zu Prag, dessen Herrschaft nur einen Winter gedauert hat, bis ihn des Kaisers mächtiges Heer vertrieben hat, nun liegt sie darnieder, die stolze Stadt, und wird sich nie erholen. Er spricht in langen Sätzen in einer wiegend schönen Melodie, ohne seine Hände zu bewegen; mit der Stimme allein schafft er es, dass man nicht anderswo hinschauen mag. Das alles sei wahr, sagt er, sogar das Erfundene sei wahr. Und Nele, ohne dass sie verstünde, was das heißen soll, klatscht.

Gottfried kritzelt in seinen Kalender. Er habe nicht gewusst, murmelt er, dass Friedrich schon wieder abgesetzt sei, nun müsse er sein Lied über ihn umschreiben.

Rechts neben Nele stimmt der Geiger mit vor Aufmerksamkeit geschlossenen Augen sein Instrument. Jetzt gehören wir dazu, denkt sie. Jetzt sind wir bei den fahrenden Leuten.

Jemand tippt ihr auf die Schulter, sie fährt herum.

Hinter ihr kauert der Gaukler. Er ist nicht mehr ganz jung, und sein Gesicht ist sehr rot. Ein so rotes Gesicht hat Heinrich Tamm gehabt, kurz bevor er gestorben ist. Sogar seine Augen sind rötlich durchzogen. Sie sind aber auch scharf und wach und klug und unfreundlich.

«Ihr zwei», sagt er leise.

Nun dreht auch der Junge sich um.

«Wollt ihr mit mir gehen?»

«Ja», sagt der Junge, ohne zu zögern.

Nele starrt ihn verständnislos an. Wollten sie nicht mit Gottfried ziehen, der gut zu ihnen ist, ihnen Essen gibt, sie aus dem Wald geführt hat? Gottfried, der sie beide gut brauchen könnte?