«Zwei wie euch kann ich gut brauchen», sagt der Gaukler. «Einen wie mich könnt ihr brauchen. Ich bring euch alles bei.»
«Aber wir sind mit ihm unterwegs.» Nele zeigt auf Gottfried, dessen Lippen sich bewegen, während er in sein Büchlein schreibt. Der Stift in seiner Hand bricht, er flucht leise, kritzelt weiter.
«Da bringt ihr's nicht weit», sagt der Gaukler.
«Wir kennen dich nicht», sagt Nele.
«Ich bin Pirmin», sagt der Gaukler. «Jetzt kennt ihr mich.»
«Ich heiße Tyll. Das ist die Nele.»
«Ich frag nicht noch mal. Wenn ihr euch nicht sicher seid, lassen wir es. Dann bin ich weg. Dann könnt ihr mit dem weiter.»
«Wir kommen mit dir», sagt der Junge.
Pirmin streckt die Hand aus, Tyll ergreift sie. Pirmin kichert leise, seine Lippen verziehen sich, in seinem Mundwinkel wird wieder die dicke feuchte Zunge sichtbar. Nele möchte nicht mit ihm reisen.
Da streckt er ihr seine Hand entgegen.
Sie rührt sich nicht. Hinter ihr spricht der Erzähler von der Flucht des Winterkönigs aus der brennenden Stadt - nun fällt er Europas protestantischen Fürsten zur Last, zieht mit seinem albernen Hofstaat durchs Land, trägt noch Purpur, als wäre er einer der Großen, aber die Kinder lachen über ihn, und die weisen Männer vergießen Tränen, weil sie in ihm die Hinfälligkeit aller Größe sehen.
Jetzt hat auch Gottfried es bemerkt. Mit gerunzelter Stirn sieht er auf die ausgestreckte Hand des Narren.
«Komm», sagt der Junge. «Schlag ein.»
Aber warum soll sie tun, was Tyll sagt? Ist sie weggelaufen, um statt ihrem Vater nun ihm zu gehorchen? Was schuldet sie ihm, weshalb soll er bestimmen?
«Was ist?», fragt Gottfried. «Was geht da vor, was soll das?»
Pirmins Hand ist immer noch ausgestreckt. Auch sein Grinsen verändert sich nicht, als hätte ihr Zögern nichts zu bedeuten, als wüsste er längst, wie sie entscheiden wird.
«Ja, was soll denn das?», fragt Gottfried wieder.
Fleischig und weich ist diese Hand, Nele möchte sie nicht anfassen. Es stimmt natürlich, dass Gottfried nicht viel kann. Aber er ist gut zu ihnen gewesen. Und sie mag diesen Kerl nicht, etwas ist nicht richtig mit ihm. Andererseits stimmt es natürlich: Gottfried wird ihnen nichts beibringen können.
Einerseits, andererseits. Pirmin zwinkert, als läse er ihre Gedanken.
Tyll zuckt ungeduldig mit dem Kopf. «Komm, Nele!»
Sie müsste nur den Arm ausstrecken.
Zusmarshausen
Er habe ja nicht wissen können, schrieb der dicke Graf in seiner in den frühen Jahren des achtzehnten Jahrhunderts verfassten Lebensbeschreibung, als er schon ein sehr alter Mann war, geplagt von Gicht, Syphilis sowie der Quecksilbervergiftung, die ihm die Behandlung der Syphilis eingetragen hatte, er habe ja nicht wissen können, was ihn erwarte, als Seine Majestät ihn im letzten Jahr des Krieges ausgeschickt habe, den berühmten Spaßmacher zu finden.
Damals war Martin von Wolkenstein noch nicht fünfundzwanzig und doch schon korpulent. Als Nachfahre des Minnesängers Oswald war er aufgewachsen am Wiener Hof, sein Vater war einst Oberkämmerer unter Kaiser Matthias gewesen, sein Großvater zweiter Schlüsselbewahrer des verrückt gewordenen Rudolf. Wer Martin von Wolkenstein kannte, mochte ihn; es war etwas Helles um ihn, eine Zuversicht und eine Freundlichkeit, die vor keiner Unbill versagten. Der Kaiser selbst hatte ihm mehrmals seine Gunst bezeigt, und als Gunstbezeugung hatte er es auch verstanden, als Graf Trauttmansdorff, der Präsident des Geheimen Rates, ihn zu sich bestellt und ihm mitgeteilt hatte, dass dem Kaiser zu Ohren gekommen sei, der berühmteste Spaßmacher des Reichs habe im halbzerstörten Kloster Andechs Zuflucht
gefunden. So vieles habe man verfallen sehen, so viel Zerstörung zulassen müssen, Unschätzbares sei untergegangen, aber dass einer wie Tyll Ulenspiegel einfach verderben solle, ob Protestant oder Katholik - denn was er eigentlich sei, scheine keiner zu wissen -, das komme nicht in Frage.
«Ich gratuliere, junger Mann», sagte Trauttmansdorff. «Nützt die Occasion, wer weiß, was daraus noch werden kann.»
Dann, so beschrieb es der dicke Graf mehr als fünfzig Jahre später, habe er ihm seine behandschuhte Hand für den damals noch vom Hofzeremoniell vorgeschriebenen Handkuss gereicht - und genau so war es gewesen, nichts davon hatte er erfunden, obwohl er gerne erfand, wenn seine Erinnerung Lücken hatte, und deren gab es viele, denn all das war, als er davon schrieb, bereits ein Menschenalter her.
Gleich am nächsten Tag ritten wir los, schrieb er. Guten Mutes war ich, voll der Hoffnung, doch auch nicht frei von schwerem Mut, denn die Reise wollte mir so recht, ich kann selbst nicht sagen, weshalb, als Begegnung mit meinem Fatum erscheinen. Und doch war ich voll Neugier darauf, dem roten Gott Mars endlich unverstellt ins Antlitz zu sehen.
Das mit der Eile stimmte nicht, in Wahrheit war mehr als eine Woche vergangen. Er musste schließlich noch Briefe schreiben, in denen er berichtete, was er vorhatte, musste Abschiede vollziehen, die Eltern besuchen, sich vom Bischof segnen lassen; er musste noch einmal mit den Freunden trinken, musste seine Liebste unter den Hofdirnen noch einmal aufsuchen, die zierliche Aglaia, an die er sich noch Jahrzehnte später mit einer Reue erinnerte, deren Seelengrund ihm selbst nicht offenbar war, und natürlich musste er die richtigen Begleiter auswählen. Er entschied sich für drei kampferprobte Männer aus dem Lobkowitz'schen Dragonerregiment sowie für einen Reichshofratssecretarius namens Karl von Doder, der den berühmten Spaßmacher zwanzig Jahre zuvor auf einem Markt bei Neulengbach gesehen hatte, wo der, wie es seine Art war, einer Frau im Publikum sehr übel mitgespielt und danach eine schlimme Messerstecherei ausgelöst hatte, natürlich zur Freude der davon nicht Betroffenen, denn so war es immer, wenn er auftrat: Einigen ging es schlecht, aber die, die davonkamen, hatten großen Spaß gehabt. Zunächst wollte der Secretarius nicht mitkommen, er argumentierte und bat und bettelte und berief sich auf eine unüberwindliche Abscheu vor Gewalt und schlechtem Wetter, aber nichts verschlug, Befehl war Befehl, er musste sich fügen. Etwas über eine Woche nach Erteilung des Auftrags also brach der dicke Graf mit seinen Dragonern sowie dem Secretarius aus der Haupt- und Residenzstadt Wien gen Westen auf.
In seinem Lebensbericht, dessen Stil noch dem Modeton seiner Jugendtage, das heißt der gelehrten Arabeske und der blumigen Ausschmückung, verpflichtet war, schilderte der dicke Graf in Sätzen, die gerade ihrer exemplarischen Gewundenheit wegen den Weg in manches Schullesebuch gefunden haben, den gemächlichen Ritt durchs Wienerwaldgrün: Bei Melk erreichten wir das breite Blau der
Donau, im herrlichen Stift kehrten wir ein, um eine Nacht lang unsere müden Häupter auf Kissen zu betten.
Das stimmte wieder nicht ganz, in Wirklichkeit blieben sie einen Monat. Sein Onkel war der Prior, und so aßen sie vortrefflich und schliefen gut. Karl von Doder, der sich immer schon für Alchimie interessiert hatte, verbrachte viele Tage in der Bibliothek, versunken in ein Buch des Weltweisen Athanasius Kircher, die Dragoner spielten Karten mit den Laienbrüdern, und der dicke Graf brachte mit seinem Onkel einige Schachpartien von solch sublimer Perfektion zustande, wie er sie nie wieder erreichen sollte; fast schien es ihm später, als hätten die Erlebnisse danach seine Begabung fürs Schachspiel erstickt. Erst in der vierten Woche ihres Aufenthaltes holte ihn ein Brief von Graf Trauttmansdorff ein, der ihn schon am Ziel wähnte und fragte, ob sie den Ulenspiegel denn in Andechs vorgefunden hätten und wann mit ihrer Rückkehr zu rechnen sei.
Sein Onkel segnete ihn zum Abschied, der Abt schenkte ihm eine Phiole geweihten Öls. Sie folgten dem Donaustrom bis Pöchlarn, um sich sodann südwestlich zu wenden.
Zu Beginn ihrer Reise war ihnen noch ein steter Strom von Händlern, Vaganten, Mönchen und Reisenden aller Art entgegengekommen. Nun aber schien das Land leer. Auch die Witterung war nicht mehr freundlich. Immer öfter wehte kalter Wind, Bäume spreizten kahle Äste, fast alle Felder lagen brach. Die wenigen Menschen, die sie sahen, waren alt: gebeugte Frauen an Brunnen, Greise, die hager vor Hütten hockten,