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Vor Schreck ließ Martha den Humpen fallen.

«Das schöne Bier», sagte der Esel. «Du saudummes Kind.»

«Man nennt das Reden mit dem Bauch», sagte Tyll Ulenspiegel. «Kannst du auch lernen, wenn du möchtest.»

«Kannst du auch lernen», sagte der Esel.

Martha hob den Humpen auf und trat einen Schritt zurück. Die Bierpfütze wurde größer und wieder kleiner, der trockene Boden saugte die Nässe ein.

«Im Ernst», sagte er. «Komm mit uns. Mich kennst du ja jetzt. Ich bin der Tyll. Meine Schwester da drüben ist die Nele. Sie ist nicht meine Schwester. Wie die Alte heißt, weiß ich nicht. Der Esel ist der Esel.»

Martha starrte ihn an.

«Wir bringen dir alles bei», sagte der Esel. «Ich und die Nele

und die Alte und der Tyll. Und du kommst weg von hier. Die Welt ist groß. Du kannst sie sehen. Ich heiß nicht einfach Esel, ich hab auch einen Namen, ich bin Origenes.»

«Warum fragt ihr mich?»

«Weil du nicht wie die bist», sagte Tyll Ulenspiegel. «Du bist wie wir.»

Martha streckte ihm den Humpen hin, aber er nahm ihn nicht, also stellte sie ihn auf den Boden. Ihr Herz klopfte. Sie dachte an ihre Eltern und an die Schwester und an das Haus, in dem sie lebte, und an die Hügel draußen hinterm Wald und an das Geräusch des Windes in den Bäumen, von dem sie sich nicht vorstellen konnte, dass es anderswo genauso klang. Und sie dachte an den Eintopf, den ihre Mutter kochte.

Die Augen des berühmten Mannes blitzten auf, als er lächelnd sagte: «Denk an den alten Spruch. Was Besseres als den Tod findest du überall.»

Martha schüttelte den Kopf.

«Na gut», sagte er.

Sie wartete, aber er sagte nichts mehr, und sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sein Interesse an ihr schon erloschen war.

Also ging sie wieder um den Wagen herum und zu den Leuten, die sie kannte, zu uns. Wir waren jetzt ihr Leben, ein anderes gab es nicht mehr. Sie setzte sich auf den Boden. Sie fühlte sich leer. Aber als wir nach oben blickten, tat sie es auch, denn allen zugleich war uns aufgefallen, dass etwas im Himmel hing.

Eine schwarze Linie durchschnitt das Blau. Wir blinzelten. Es war ein Seil.

Auf der einen Seite war es am Fensterkreuz des Kirchturms festgebunden, auf der anderen an einer Fahnenstange, die neben dem Fenster des Bürgerhauses aus der Mauer ragte, in dem der Stadtvogt arbeitete, was aber nicht oft geschah, denn er war faul. Im Fenster stand die junge Frau, sie musste das Seil gerade erst festgeknotet haben; aber wie, so fragten wir uns, hatte sie es gespannt? Man konnte hier oder dort sein, in diesem Fenster oder im anderen, man konnte leicht ein Seil festknoten und es fallen lassen, aber wie bekam man es wieder hinauf ins andere Fenster, um die andere Seite festzumachen?

Wir sperrten die Münder auf. Für eine Weile schien es uns, als wäre das Seil selbst schon das Kunststück und als bräuchte es nicht mehr. Ein Spatz landete darauf, machte einen kleinen Sprung, breitete die Flügel aus, überlegte es sich anders und blieb sitzen.

Da erschien Tyll Ulenspiegel drüben im Kirchturmfenster. Er winkte, sprang aufs Fensterbrett, trat aufs Seil. Er tat das, als wäre es nichts. Er tat es, als wäre es nur ein Schritt wie jeder. Keiner von uns sprach, keiner rief, keiner bewegte sich, wir hatten aufgehört zu atmen.

Er schwankte nicht und suchte nicht nach Gleichgewicht, er ging einfach. Seine Arme schlenkerten, er ging, wie man auf dem Boden geht, bloß sah es ein bisschen geziert aus, wie er immer einen Fuß genau vor den anderen setzte. Man musste scharf hinsehen, um die kleinen Hüftbewegungen zu bemerken, mit denen er das Schwanken des Seils abfing. Er machte einen Sprung und ging nur einen Moment in die Knie, als er wieder aufkam. Dann spazierte er, die Hände auf dem Rücken gefaltet, zur Mitte. Der Spatz flog auf, aber er machte nur ein paar Flügelschläge und setzte sich wieder und drehte den Kopf; es war so still, dass wir ihn fiepen und piepen hörten. Und natürlich hörten wir unsere Kühe.

Tyll Ulenspiegel über uns drehte sich, langsam und nachlässig - nicht wie einer, der in Gefahr ist, sondern wie einer, der sich neugierig umsieht. Der rechte Fuß stand längs auf dem Seil, der linke quer, die Knie waren ein wenig gebeugt und die Fäuste in die Seiten gestemmt. Und wir alle, die wir hochsahen, begriffen mit einem Mal, was Leichtigkeit war. Wir begriffen, wie das Leben sein kann für einen, der wirklich tut, was er will, und nichts glaubt und keinem gehorcht; wie es wäre, so ein Mensch zu sein, begriffen wir, und wir begriffen, dass wir nie solche Menschen sein würden.

«Zieht eure Schuhe aus!»

Wir wussten nicht, ob wir ihn verstanden hatten.

«Zieht sie aus», rief er. «Jeder den rechten. Fragt nicht, tut es, das wird lustig. Vertraut mir, zieht sie aus. Alt und Jung, Frau und Mann! Jeder. Den rechten Schuh.»

Wir starrten ihn an.

«War es denn nicht lustig bis jetzt? Wollt ihr nicht mehr? Ich zeige euch mehr, zieht die Schuhe aus, jeder den rechten, los!»

Wir brauchten eine Weile, um in Bewegung zu kommen. So ist es immer mit uns, wir sind bedächtige Leute. Als Erstes gehorchte der Bäcker, dann sogleich Malte Schopf und dann Karl Lamm und dann dessen Frau, und dann gehorchten die Handwerker, die sich immer für was Besseres hielten, und dann taten wir es alle, jeder von uns, nur Martha nicht. Tine Krugmann neben ihr stieß sie mit dem Ellenbogen und zeigte auf ihren rechten Fuß, aber Martha schüttelte den Kopf, und Tyll Ulenspiegel auf dem Seil machte von neuem einen Sprung, wobei er in der Luft die Füße zusammenschlug. So hoch sprang er, dass er beim Aufkommen die Arme ausstrecken musste, um sein Gleichgewicht zu finden - ganz kurz nur, aber es reichte, um uns daran zu erinnern, dass auch er Gewicht hatte und nicht fliegen konnte.

«Und jetzt werft», rief er mit hoher, klarer Stimme. «Denkt nicht, fragt nicht, zögert nicht, das wird ein großer Spaß. Tut, was ich sage. Werft!»

Tine Krugmann tat es als Erste. Ihr Schuh flog und stieg höher und verschwand in der Menge. Dann flog der nächste Schuh, es war der von Susanne Schopf, und dann der nächste, und dann flogen Dutzende und dann noch mehr und mehr und mehr. Alle lachten wir und schrien und riefen: «Pass auf!», und: «Duck dich!», und: «Hier kommt was!» Es war ein Heidenspaß, und es machte auch nichts, dass manche der Schuhe Köpfe trafen. Flüche stiegen auf, ein paar Frauen schimpften, ein paar Kinder weinten, aber es war nicht schlimm, und Martha musste sogar lachen, als ein schwerer Lederstiefel sie nur knapp verfehlte, während ein gewebter Pantoffel vor ihre Füße segelte. Er hatte recht gehabt, und

einige fanden es sogar so lustig, dass sie auch die linken Schuhe warfen. Und einige warfen noch Hüte und Löffel und Krüge, die irgendwo zerbrachen, und natürlich warfen ein paar auch Steine. Aber als seine Stimme zu uns sprach, ebbte der Lärm ab, und wir horchten.

«Ihr Deppen.»

Wir blinzelten, die Sonne stand niedrig. Die auf der hinteren Seite des Platzes sahen ihn deutlich, für die anderen war er nur ein Umriss.

«Ihr Narren. Ihr Staubköpfe. Ihr Frösche. Ihr Nichtsnutze, ihr Maulwürfe, ihr blöden Ratten. Jetzt holt sie euch wieder.»

Wir starrten.

«Oder seid ihr zu blöd? Könnt sie euch nicht mehr holen, schafft es nicht, seid zu dumm in den Schädeln?» Er lachte meckernd. Der Spatz flog auf, erhob sich über die Dächer, war dahin.

Wir blickten einander an. Was er gesagt hatte, war gemein; aber es war so gemein auch wieder nicht, dass es nicht immer noch ein Scherz sein konnte und ein derbes Frotzeln nach seiner Art. Dafür war er ja berühmt, er konnte es sich erlauben.

«Na was denn?», fragte er. «Braucht ihr sie nicht mehr? Wollt sie nicht mehr? Mögt sie nicht mehr? Ihr Rindviecher, holt eure Schuhe!»

Malte Schopf war der Erste. Ihm war die ganze Zeit nicht wohl gewesen, und so lief er jetzt dorthin, wo er meinte, dass sein Stiefel hingeflogen war. Er schob Leute zur Seite, drängte

sich, schob sich, bückte sich und wühlte zwischen den Beinen. Auf der anderen Seite des Platzes tat Karl Schönknecht es ihm nach, und dann folgte Elsbeth, die Witwe des Schmieds, aber ihr kam der alte Lembke dazwischen und rief, sie solle sich trollen, das sei der Schuh seiner Tochter. Elsbeth, der noch die Stirn weh tat, weil ein Stiefel sie getroffen hatte, rief zurück, dass lieber er sich trollen solle, denn sie könne ja wohl noch ihren Schuh erkennen, so schöne bestickte Schuhe wie sie habe die Lembke-Tochter gewiss nicht, worauf der alte Lembke schrie, sie solle ihm aus dem Weg gehen und nicht seine Tochter schimpfen, worauf wiederum sie schrie, dass er ein stinkiger Schuhdieb sei. Da mischte sich Lembkes Sohn ein: «Ich warne dich!», und zur selben Zeit begannen Lise Schoch und die Müllerin zu streiten, denn ihre Schuhe sahen wirklich gleich aus, und ihre Füße waren gleich groß, und auch zwischen Karl Lamm und seinem Schwager setzte es laute Worte, und Martha begriff plötzlich, was hier geschah, und sie hockte sich auf den Boden und kroch los.